Didaktische Orientierungshilfen für digitale Arrangements im Religionsunterricht

Hier werden sechs didaktische Abwägungen zu einem Religionsunterricht in digitalen Lernarrangements zur Diskussion gestellt:

Während der Schulschließungen und der dadurch bedingten online Phasen haben sich viele Religionspädagog*innen digitale Techniken für das Unterrichten auf Distanz aneignen müssen. Was bei den einen Begeisterung und Experimentierfreude auslöste, verursachte bei Anderen Verunsicherung und Frust. Welche Ausstattung und Kenntnisse braucht es für erfolgreichen Religionsunterricht im digitalen Raum? Wie verändert sich Lernen und Lehren, wenn die vertrauten Unterrichtstechniken, Sozialformen, Methoden, Medien, Kommunikationsformen im digitalen Raum nicht oder ganz anders funktionieren?  Inspiriert durch ein Impulspapier[1] des NRW-Schulministeriums möchte ich im Folgenden sechs didaktische Abwägungen zu einem Religionsunterricht in digitalen Lernarrangements[2] zur Diskussion stellen.   

Beziehungsarbeit vor Technisierung

Bei digitalem Lernen denken viele zuerst an Computer, Lernplattformen und digitale Medien. Gefragt wird nach einer guten App, nach spielerischen Lerntechnologien, nach Video- und Diskussionsplattformen oder nach digitalen Werkzeugen zum kollaborativen Gestalten etc. Doch beim Lernen im digitalen Raum geht es nicht nur vorrangig um Tools und Apps, sondern zuallererst um Beziehungsarbeit mit Schülerinnen und Schülern. Auch die religionspädagogische Perspektive hat stets den ganzen Menschen im Blick.  Für den Religionsunterricht ist deshalb die Kommunikation auf der Beziehungsebene eine der wichtigsten Funktionen, die digitale Technik ermöglichen muss. Lernende brauchen unterstützende und erreichbare Lernbegleiter*innen. Lernerfolg korreliert mit positiven Emotionen, die sich durch positive, motivierende Signale verstärken lassen. Deshalb sind Kommunikationswerkzeuge wie z.B. Fragebögen zur Selbstevaluation,  Kommentarfunktionen, Belohnungssysteme etc. bedeutsam.

In der Praxis empfiehlt sich die Nutzung von digitalen Lerntagbüchern, über welche Erkenntnisse ausgetauscht werden und Lernende regelmäßig begleitendes Feedback, wertschätzende Kommentare und vielleicht auch „Stars“ oder „ThumpsUp“ erhalten. In Ergänzung dazu können Unterrichtende auch ein „Lehrertagbuch“ anlegen und Anknüpfungspunkte zur Kommunikation mit den Lernenden anbieten. Grundsätzlich sollten Lerngruppen die Möglichkeit haben, untereinander und mit ihren Lernbegleitern in Kontakt zu treten. Dazu eigenen sich besonders Gruppenchats, Foren und Konferenzen. Dieser Kommunikationsraum lässt sich ggf. erweitern durch Einbeziehung von Schulseelsorge/Schulsozialarbeit und Klasseleitung in verknüpften Kommunikationsräumen.

Leichter Zugang vor komplexen Anwendungen

Wer einen eigenen PC und ein eigenes Zimmer hat, hat Vorteile gegenüber Lernenden, die sich ein Gerät in der Familie teilen müssen. Da die Rahmenbedingungen verschieden sind, empfiehlt es sich, Anwendungen zu bevorzugen, die möglichst einfach und unter allen technischen Bedingungen funktionieren. Webbasierte Anwendungen, die durch einen Link im Browser aufgerufen werden können, sind beispielsweise empfehlenswerter als Apps und Tools, die eine gesonderte Installation und/oder Registrierung erfordern. Vertraute Software, die Schüler bereits kennen, sollten, sofern es rechtlich unbedenklich ist, immer gegenüber neuen Tools bevorzugt werden. Im Sinne der Bildungsgerechtigkeit sollte der Lernerfolg so wenig wie möglich an die digitale Ausstattung gebunden werden.

In der Praxis empfiehlt es sich, Kenntnisstand und die verfügbare technische digitale und räumliche Ausstattung zu Beginn einer Unterrichtsphase zu ermitteln. Längere Etappen/Projekte in der Unterrichtsplanung ermöglichen Lernenden innerhalb ihrer möglichen Zugangszeiten an dem Projekt zu arbeiten. Digitale Lernarrangements implizieren keineswegs nur das Arbeiten am Bildschirm. Auch Bücher und haptische Medien haben darin einen Ort. Erkundung der Umgebung, Erstellung von Schautafeln, Schreiben auf Papier, Malen von Bildern, kreatives Werken mit vorhandenen Werkstoffen, Collagen etc. können in Arbeitsaufträgen zum Einsatz kommen und anschließend über Smartphone-Fotos (Schnappschüsse) oder -Videos präsentiert und in einem virtuellen Gruppenraum der Lerngruppe zur Verfügung gestellt werden.

Vertrauen und Freiheit vor Kontrolle und Strukturvorgaben

Lernen außerhalb des Klassenzimmers an verteilten Orten im offenen Netz lässt sich nur schwer kontrollieren. Um diesen Kontrollverlust zu reduzieren, bieten viele Lernplattformen Optionen durch Content-Filter, Taktung von Lernaufträgen und Abgabeterminen, Überwachung von Verweildauer und digitalen Aktivitäten, etc.  Diese Mechanismen stehen jedoch dem religionspädagogischen Anspruch von selbstbestimmten Lernen, zu dem auch das Vertrauen in den selbstbestimmten Umgang mit Medien und die Eigenverantwortlichkeit für den eigenen Lernprozess gehören, entgegen. Daher sollten auch die Nutzung der eigenen mobilen Geräte (BYOD) in einem vernünftigen Rahmen gewährt werden.

Lernen über das Netz ermöglicht den Lernenden Orte, Zeiten und Intensität ihrer Lernaktivitäten selbst zu wählen ohne dass dies ständig überwacht wird. Damit der Lernprozess nicht scheitert, braucht es jedoch Strukturen und Rhythmen, an denen sich die Lernenden orientieren können. In der Praxis helfen konkrete Zielvorgaben, Wochenpläne, Checklisten und Reflexionsfragebögen um einen Orientierungsrahmen abzustecken, den die Lernenden selbst miterstellen und über die Zeit optimieren können. Manche brauchen dabei Ermutigung und Begleitung. Das Ausmaß der Strukturierungshilfen muss für die jeweiligen Lernenden und Lerngruppen angepasst werden. Aufgabe der Lernbegleitung ist zuerst die Förderung der „Fähigkeit zum selbstregulierenden Lernen“[3]. Dazu gehört auch die Reflexion und Selbstkontrolle der eigenen Mediennutzung (gerade auch bei der Verwendung eigener Geräte) und der damit verbundenen Techniken, um sich selbst und andere Nutzende im Netz vor Gefahren schützen können.

Selbstbestimmte Lernzeiten vor Synchronlernen

Präsenzunterricht setzt in der Regel die Anwesenheit aller Lernenden voraus. Auch wenn Videokonferenzen auf die lokale Anwesenheit im Schulgebäude verzichten, erfordern sie ein geeignetes Gerät mit einem Breitband Internetzugang in einem lärmfreien Raum zu einer festverabredeten Zeit.  Synchrone Lern- und Lehraktivitäten implizieren oftmals einen gleichartigen Lernfortschritt. Zeitversetzte Kommunikationstechniken hingegen über Foren, Messenger und Lernplattformen ermöglichen mehr Selbstregulierung. Arbeitsgeschwindigkeit und individueller Lernfortschritt kann zum Beispiel durch beliebig häufige Wiederholung von Erklärvideos oder die Nutzung ergänzend bereitgestellter Informationen, individuell angepasst werden.

In der Praxis des Religionsunterrichts spielt der Dialog über Fragen des Glaubens, Handelns und Welt-Verstehens eine zentrale Rolle. Theologisieren in vertrauenswürdigen digitalen Räumen wie strukturierten Foren, Messengern, über Micro-Blogging oder vielfältigen kreativen Ausdrucksformen (Rollenspiel, Minecraft, Bibliolog, Godly Play,  Erzählfiguren …) ermöglichen eine intensive Auseinandersetzung mit religiösen und weltanschaulichen Aussagen auf dem Hintergrund eigener Erfahrungen und Annahmen. Zeitversetztes Kommunizieren und Reagieren lässt mehr Muße für Reflexion und Tiefgang.  

Für den Erwerb grundlegender Kenntnisse und Fertigkeiten, zu denen Hl. Schriften, Traditionen, Symbole, Rituale und bedeutsame Orte gehören, bieten sich neben Textmaterialien interaktive Erklär-Videos oder Anschauungsmaterialien an. Diese werden von den Unterrichtenden im Internet vorselektiert oder bereitgestellt und können über einen längeren Zeitraum bearbeitet werden. Gute Lernangebote stellen Lösungshilfen und Angebote zur Selbstüberprüfung bereit, die den Lernenden anzeigen, ob sie die nötigen Kompetenzen erworben haben und wo sie sich verbessern können.

Gleichzeitig können Präsenzphasen dadurch eine neue Qualität bekommen. Als „Konferenzen der jungen Experten“ ermöglichen sie Austausch und Vertiefung neuer Erkenntnisse und Fertigkeiten. Darüber hinaus bieten es sich an, Präsenzphasen mehr als spirituelle und soziale Lern- und Erfahrungsräume zu nutzen, in denen Lernende sich selbst in verschiedenen Rollen und Ritualen erproben, analysieren und reflektieren können.

Adaptive Projektarbeiten vor punktuellen Leistungsnachweisen

Standardisierte Formate der Leistungsfeststellung erfordern in der Regel, dass alle im selben Moment dasselbe bearbeiten. „Die Form der Leistungsbewertung, die auf die vereinzelte und punktuelle Reproduktion kurzfristig erlernten Wissens gerichtet ist, verhindert nachhaltiges und anwendungsorientiertes Lernen.“[4] Selbstregulierendes Lernen, digitale Lernarrangements und hybrides Unterrichten brauchen eine Öffnung des Leistungsbegriffs.

Zum „Religion-lernen“ gehören produktive, kreative Aktivitäten, bei denen Lernende ihre Beobachtungen, Fragen und Deutungen in Worte, Bilder und Handlungen umsetzen und diese präsentieren und erklären können. Für solche Lernprozesse bieten sich methodisch „adaptive Projekte“ an, bei denen sich die Lernenden gegenseitig zu Projektvorhaben einladen und in Gruppen von 6-8 Personen ein Produkt (z.B.: Erklärvideo) erstellen. Hier können sie Elemente zusammentragen, die ihren individuellen Lernvoraussetzungen entsprechen, sowie eigenen Interessen und Erfahrungen Rechnung tragen. Die adaptive Projektmethode ermöglicht die Anpassung von Projektzielen und –Inhalten, weil etwa durch im Unterricht dazu gekommenen Kenntnisse neue Fragestellungen entstanden sind. Dieser Prozess und die damit verbunden individuellen Leistungen oder ggf. notwendige Fördermaßnahmen werden in einem Lerntagebuch oder einer Projektdokumentation nachvollziehbar. Projektarbeit ersetzt nicht den Unterricht, sondern Ist gute Möglichkeit die Kompetenzentwicklung im Sine der erbrachten Lernleistung zu beschrieben und bietet darüber hinaus einen erweiterten Gestaltungsraum, in dem sich Lernende gegenseitig unterstützen und intrinsisch motivierte Lernaktivitäten in einen gemeinsamen Lernerfolg münden lassen, der am Ende auch gefeiert werden kann. [5]

Peer-Feedback vor Lehrerfeedback

Für einen erfolgreichen Lernprozess brauchen Lernende Feedback. Feedback hilft, Selbstvertrauen und Selbstkompetenz zu stärken, das eigene Können besser einzuschätzen, Fehlkonzepte zu erkennen und zu korrigieren und neue Handlungsoptionen zu finden.  Dazu gehört auch das Feststellen von Defiziten und Fehlern.

Beurteilung und Selektion belasten das Verhältnis zwischen Lehrenden und den Lernenden und stehen in Konkurrenz zur Beziehungsarbeit. Eine wichtige Entlastung in diesem Dilemma bieten die Möglichkeiten des Peer-Feedback als gegenseitige Rückmeldungen der Lernenden. Wertschätzende Peer-Feedbacks haben sich in vielen Bereichen als äußerst wirksam erwiesen, müssen in der Regel aber erst in Sprach- und Haltungsmustern eingeübt werden. Im Peer-Feedback stellen Peers gegenseitig ihre (Teil-)Ergebnisse und –Produkte vor und lernen sich als „Experten“ wahrzunehmen. Sie melden sich gegenseitig zurück, was sie voneinander verstanden haben. Sie stellen Sachfragen, wo ihnen etwas unklar ist und machen konstruktive Vorschläge, wie das Ergebnis weiter verbessert werden kann.[6] Dazu ist es ein transparenter Erwartungshorizont in Form von Kompetenzbeschreibungen, Kriterien oder Checklisten zu Beginn einer Unterrichtsphase hilfreich.

Digitalität entschränkt formale Lernräume und erleichtert es, Feedback auch von Menschen mit anderen religiösen Glaubensweisen und nicht-religiösen Weltanschauungen einzuholen. Ebenso können individuelle Bezugsgruppen (Freunde, Familie) die Vielfalt möglicher Rückmeldungen bereichern. Durch eine transparente Öffnung des Unterrichts (zum Beispiel durch die Präsentation und Dokumentation des Projektes auf einer Internetseite) kann die Relevanz des Gelernten an Bedeutung gewinnen und zusätzlich motivieren.


[1] Axel Krommer, Philippe Wampfler und Wanda Klee: Didaktische Hinweise für Lehrerinnen und Lehrer und Seminarausbilderinnen und Seminarausbilder. In:  https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Recht/Schulgesundheitsrecht/Infektionsschutz/300-Coronavirus/Coronavirus_Impulse_Distanzlernen (2020-06)

[2] Stangl, W. (2020). Stichwort: ‘Lernarrangement’. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.

In: https://lexikon.stangl.eu/14875/lernarrangement (2020-09-19)

[3] Christian Fischer, Christiane Fischer-Ontrup & Corinna Schuster „Individuelle Förderung und selbstreguliertes Lernen, Bedingungen und Optionen für das Lehren und Lernen in Präsenz und auf Distanz“. In „Die Deutsche Schule“, Beiheft 16, Seit 136 ff.

[4] Leistung im 21. Jahrhundert Hrsg: BLLV 2.2020. In: https://www.bllv.de/fileadmin/BLLV/Bilder/Themen/Lernbegriff_-_Leistung/21_02_20_Felsner_Leistung_Broschure.pdf

[5] „Empirische Analysen bestätigen die hohe Wirksamkeit dieses adaptiven Projektformats zur Entwicklung von Lernstrategien und zur Förderung der Schulleistungen der Schüler*innen“. Christian Fischer, Christiane Fischer-Ontrup & Corinna Schuster,  s.o.  S.145

[6] Reflection prompts für gutes Peer-Feedback in formativen Lernphasen: Eine Schülerin erklärt sich. Ein Praxisbericht von Dr. Monika Wilkening, Gymnasiallehrerin und Mitglied der Arbeitsgruppe Lernen sichtbar machen in: https://www.lernensichtbarmachen.ch/2017/10/reflection-prompts-fuer-gutes-peer-feedback-in-formativen-lernphasen-eine-schuelerin-erklaert-sich/

Joachim Happel
Joachim Happel

Mitgründer und Entwickler einer religionspädagogischen Austausch-Plattform, die seit 2002 unter dem Namen "virtuelles religionspädagogisches Institut" (rpi-virtuell) als Einrichtung der EKD und seit 2008 am Comenius-Institut angegliedert ist. - Evang. Pfarrer, Informatiker und Experte für neue Lerntechnologien, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Comenius Institut, zuständig für die Koordination und Entwicklung von rpi-virtuell. - Weitere Arbeitsschwerpunkte: E-Learning, Freie Bildungsmedien (OER), Digitalisierung in Bildungsprozessen religionspädagogischer Einrichtungen

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