Aktuelle Debatte: Das langsame Sterben des Schulbuchs

Warum im digitalen Wandel das Urheberrecht das verbietet, was pädagogisch geboten ist. Den Schulen droht ein Kulturkampf. oder: Das Schulbuch, König der alten Schulmedien, stirbt. Sein Nachfolger steht bereit – wird aber vom aktuellen Urheberrecht blockiert. Ungekürzte Version des Artikels in der taz vom 2.5.2012. Von Felix Schaumburg und Jöran Muuß-Merholz   „Schlagt bitte alle…

Warum im digitalen Wandel das Urheberrecht das verbietet, was pädagogisch geboten ist. Den Schulen droht ein Kulturkampf.

oder:

Das Schulbuch, König der alten Schulmedien, stirbt. Sein Nachfolger steht bereit – wird aber vom aktuellen Urheberrecht blockiert.

Ungekürzte Version des Artikels in der taz vom 2.5.2012.
Von Felix Schaumburg und Jöran Muuß-Merholz

 

CC BY-NC-ND by crunchcandy / http://flic.kr/p/5gFcCa

Schlagt bitte alle Seite 57 auf. In der letzten Stunde waren wir beim zweiten Abschnitt stehen geblieben. Da machen wir jetzt weiter.“ So einfach funktionierte die alte Schule. Alle arbeiteten zur gleichen Zeit mit gleichem Tempo mit den gleichen Methoden am gleichen Inhalt. Die SchülerInnen durften nicht machen, sollten aber mitmachen. Die LehrerInnen sagten an, wo es lang ging. Die drei wichtigsten Medien der LehrerInnen sind bis heute: die Stimme, die Tafel und das Schulbuch. Mehr als alle andere Medien verkörpert das Schulbuch die Gleichschritt-Schule.

Die neue Schule, das sagen uns alle PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und LehrerfortbildnerInnen, ist das Gegenteil von Gleichschritt. Binnendifferenzierung und Individualisierung sind wichtige und schwierige Herausforderungen, vor denen die Schule heute steht. Der Unterricht, Kerngeschäft der Profession Pädagogik, muss umgekrempelt werden. Die LehrerInnen soll nicht mehr (nur) lehren, sondern Umgebungen für selbständiges und freies Arbeiten schaffen.

Der didaktische Umbruch verlangt auch neue Unterrichtsmaterialien. Das Schulbuch verliert seinen Stellenwert. Wer heute in eine Schule mit einigermaßen individualisiertem Unterricht geht, der findet dort ein Sammelsurium verschiedenster Materialien. Es gibt zwar immer noch Bücher, aber vor allem Stückwerk. Das wichtigste Unterrichtsmaterial der modernen Schule: Arbeitsblätter. Klassenräume in Reformschulen sind voll von Ordnern und Schnellheftern, Ablagekörben und Fächern. Eltern von Grundschülern wissen: Der Umgang mit Locher, Heftstreifen und Tacker ist für Achtjährige schon so Routine wie sonst nur für Buchhalter und Finanzbeamte.

Für die LehrerInnen auf der anderen Seite ist der Kopierer zur unentbehrlichen Ausstattung geworden. Die Anzahl von Kopien, die in einer Schule angefertigt werden, sind immer weiter gestiegen. LehrerInnen werden zunehmend zu ExpertenInnen im Zusammenstellen von Material. Auch die Teamarbeit unter KollegInnen wird so katalysiert. Wer viele verschiedene Materialien entwickeln und zusammenstellen muss, der merkt schnell, dass Arbeitsteilung (im doppelten Sinne) das Leben vereinfacht.

Rip, Mix, Burn nannte man es zur Jahrtausendwende in der digitalen Kultur, wenn aus bestehenden Inhalten ein neues Werk geschaffen wurde. Man rippte zum Beispiel Musik, brachte sie also von einem Tonträger in den Computer. Dort mischte man die vorhandenen Lieder zu etwas Neuem zusammen – und brannte das Ergebnis auf ein neues Medium, um es unter FreundenInnen und Fremden zu verteilen. Die Kultur der Kassette wurde in die digitale Zeit übertragen und führte zu einer lebendigen und kreativen Szene.

Heute braucht es dafür keine Datenträger mehr, insofern würde man eher von Rip, Mix, Share oder Rip, Mix, Copy sprechen. Nichts anderes machen moderne LehrerInnen. Bisher waren ihre Werkzeuge: Schere (Rip), Klebestift (Mix) und Kopierer (Copy). In Schulen ist Rip, Mix, Copy schon viel länger als Kulturtechnik etabliert als Computer und Internet. Sind damit alle LehrerInnen Piraten und Raubkopierer? Nicht ganz. Denn diese Arbeitsweise ist Teil des eingespielten Systems. Das Urheberrecht sieht bisher ausdrücklich einen Spielraum für das Kopieren vor. Lehrkräfte dürfen bis zu 12 % eines Werkes, jedoch maximal 20 Seiten kopieren und einer Lerngruppe innerhalb eines Schuljahres austeilen. Die Urheber werden über eine Pauschalvergütung für die Kopien entschädigt.

Soweit der Status quo in der analogen Welt. Heute geht jedoch auch bei LehrerInnen die Unterrichtsvorbereitung zunehmend digitale Wege: Materialien werden per Scanner gerippt. Bildbearbeitung und Textverarbeitung ersetzen Schere und Klebestift. Der Kopierer steht in Form eines Multifunktionsdruckers gleich neben dem Schreibtisch. Und inzwischen ist auch noch das Internet dazu gekommen. LehrerInnen finden im Internet Unterrichtsmaterialien zu verschiedensten Themen, von unterschiedlichsten Anbietern und unterschiedlichster Qualität.

Später als viele andere Professionen entdecken auch LehrerInnen, dass der vernetzte digitale Raum für sie interessant ist: um Materialien zu finden, neu zusammenzustellen, sie im Team über USB-Sticks, Wikis und Cloud-Dienste zu teilen. Ein Glücksfall: Just zu dem Zeitpunkt, in dem die Differenzierung von Unterrichtsmaterial zur didaktischen Notwendigkeit wird, entdecken LehrerInnen die Arbeitsmittel, die genau dafür gemacht sind. Die digitalen Werkzeuge passen ideal zu den Anforderungen, die heute an Unterrichtsmaterialien und Schule gestellt werden.

Aber paradoxerweise ist genau das verboten, was pädagogisch sinnvoll wäre. Das Urheberrecht gilt nämlich, so wie es oben beschrieben wurde, nicht mehr, sobald ein Computer ins Spiel kommt: Das digitale Speichern und Verteilen ist grundsätzlich verboten – auch wenn es sich nur um ein kleines Bild oder einen kurzen Text handelt. Es dürfen keinerlei digitale Kopien von Unterrichtsmaterial angefertigt werden – auch nicht für die häusliche Vorbereitung, weil sie nicht privat, sondern beruflich begründet ist.

Vielen LehrerInnen war dieses Verbot bis vor kurzem gar nicht bewußt. Sie erfreuten sich der neuen digitalen Möglichkeiten – bis im Herbst 2011 die Planungen für den so genannten Schultrojaner aufgedeckt wurden. Mithilfe eines Programms der Rechteinhaber sollten alle Computer in Schulen auf urheberrechtlich geschützte Werke untersucht werden, um illegale Kopien aufzuspüren (vgl. taz 9.11.2011). Auch wenn die Planungen für die entsprechende Software vorerst gestoppt wurden, ist die Absicht hinter der Software nicht aus der Welt. In Niedersachsen werden die Schulleitungen angehalten, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass auf den schulischen Computern keinerlei urheberrechtlich geschütztes Material gespeichert wird. Auch in anderen Bundesländern hört man von urheberrechtlichen Selbstverpflichtungen, die LehrerInnen unterschreiben sollen. In den Schulen herrscht große Unsicherheit. In manchen Kollegien gilt daher die Devise: Lassen wir lieber erst einmal die Finger von allem Digitalen, nur so sind wir auf der sicheren Seite.

Seit Ende 2011 kursiert unter Eingeweihten das Kürzel OER als eine Art Heilversprechen, das pädagogische und digitale Welt versöhnen könnte, ohne dass dafür alle LehrerInnen zu Kriminellen werden müssen. OER steht für Open Educational Resources, also in etwa Offene Unterrichtsmaterialien. Dahinter verbirgt sich kurz gefasst folgendes: Entsprechende Materialien werden unter einer Lizenz veröffentlicht, die das Kopieren, das Bearbeiten und die Verbreitung von veränderten Inhalte explizit erlaubt. Auch der Browser Firefox oder die Wikipedia arbeiten mit ähnlichen Lizenzen.

Die Vorteile von OER liegen auf der Hand: LehrerInnen können entsprechende Materialien nicht nur frei verwenden. Entscheidend ist aus pädagogischer Sicht, dass die Materialien verändert und neu kombiniert werden können. Sie können selbst erstellte und “Remixe” von Materialien auch an andere weiterreichen. Dem offenen Austausch unter KollegInnen steht dann urheberrechtlich nichts mehr im Wege. Häufig wird auch der Kostenfaktor angeführt, denn Inhalte unter einer freien Lizenz sind meist kostenlos erhältlich.

Doch ganz so einfach ist das nicht. Unklar ist nämlich noch, wie Material aus Drittquellen mit OER verknüpft werden können. Ein Beispiel macht es deutlich: Für den Chemieunterricht wird es ein Leichtes sein, Experimente, Zeichnungen und Anleitungen neu zu erstellen oder aus bereits offenen Quellen zu beziehen. Für das Fach Deutsch oder Geschichte muss man aber auf Originalquellen zurückgreifen. Ein Gedicht von Brecht muss im (urheberrechtlich geschützten) Original verwendet werden. Ein anderer Punkt: Nicht alle LehrerInnen möchten sich das Material für den eigenen Unterricht im Internet neu zusammensuchen. Für eine gemeinsame Basis und zuverlässige Materialien braucht es Instanzen, die geprüfte und möglicherweise zertifizierte Materialien zusammenstellen. Inwieweit diese Leistungen von PraktikerInnen, von staatlichen Stellen oder von Verlagen übernommen werden, ist noch vollkommen offen. Ein dritter Punkt betrifft die Kultur der Zusammenarbeit an deutschen Schulen: Bisher gibt es an den Schulen oft nur informelle Kreise, die gemeinsam am Unterrichtsmaterial arbeiten. Bereits der Austausch innerhalb des Lehrerkollegiums ist für viele LehrerInnen nicht selbstverständlich, ein offener Austausch über das Internet ist nur für eine kleine Minderheit vorstellbar.

Digitalisierung, Urheberrecht und eine Kultur der Zusammenarbeit bilden ein Dreieck, dessen Ecken gegenseitig beeinflussen. Bei Digitalisierung und Urheberrecht geht es nicht nur um technische und juristische Fragen. Vielmehr stehen und fallen hier die Grundlagen für Unterrichtsmaterialien, die den pädagogischen Ansprüchen moderner Schule gerecht werden.


Infobox I: OER in Deutschland

Einige Anlaufstellen zum Thema:

  • cc-your-edu.de führt verschiedene Websites mit offenen Bildungsmaterialien auf und erklärt die Grundsätze von offenen Lizenzen.
  • segu-geschichte.de stellt offene Materialien auf einer Lernplattform für selbstgesteuerten Geschichtsunterricht zusammen.
  • www.joeran.de/oer: Die beiden Autoren dieses Artikels haben eine ausführliche Bestandsaufnahme zu OER in Deutschland erstellt.
  • wikimedia.de: Der Trägerverein der Wikipedia engagiert sich zunehmend auch bei der Erstellung von OER in Deutschland.

Infobox II: Apps statt Papier

Gleichzeitig mit der Diskussion um OER kommt auch andernorts Fahrt in die Debatte um digitale Unterrichtsmaterialien. Apple versucht mit der Software iBooks Author, seinem iBooks Store und der Bewerbung von „iPad-Schulklassen“ in den Schulen Fuß zu fassen.

Anfang Februar zogen die Schulbuchverlage nach und kündigten das Portal „Digitale Schulbücher” an, wo digitale, interaktiv angereicherte Versionen bereits existierender Schulbücher angeboten werden sollen.

Beide Angebote bilden den Gegenpol zu OER: Digitale Materialien, die nicht zum Bearbeiten und Kopieren einladen, sondern genau dies verbieten. Hier deutet sich ein Kulturkampf an: Die offene Kultur von Eigenaktivität und Austausch gegen die geschlossenen Systeme von Konsum und Copyright.


Dieser Text steht unter einer CC-by-3.0-Lizenz. Das bedeutet, dass Sie ihn für beliebige Zwecke kopieren oder verändern oder veränderte Kopien in Umlauf bringen können, solange sie die dabei die Autoren Jöran Muuß-Merholz und Felix Schaumburg nennen. Details zu dieser Lizenz finden Sie unter creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/

Jörg (rpi-News-Autor) Lohrer
Jörg (rpi-News-Autor) Lohrer
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2 Kommentare

  1. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
    seit vielen Jahren arbeite ich in meinen Klassen sehr intensiv mit der Lernplattform rpi-virtuell. Mir ist es wichtig, dass Schüler/innen neue Lernräume erschließen, zur Medienkritik befähigt werden und selbstverantwortlich Lernprodukte erstellen. Auf der anderen Seite habe ich an meiner Schule eingeführt, dass jede/r Schüler/in ihr/sein eigenes Religionsbuch erhält Fakt ist nämlich: Zurzeit gibt es im Bereich der Religion noch kaum gute Arbeitsmaterialien als OER. Wenn es um die Vermittlung von Grundinformationen geht, ist m.E. das Schulbuch noch immer dem Netz weit überlegen. Und ich schätze es sehr, dass Verlage bereit sind, viel Geld in die Konzeption und Gestaltung eines Schulbuches zu investieren. Das ist kein eintöniges Lernen, sondern eine sinnliches Erlebnis, wenn Schüler/innen und Lehrer/innen gemeinsam in der Welt des Glaubens auf Entdeckungsreise gehen. Warum sollten die Verlage für ihre Produkte nicht auch die entsprechende Vergütung erhalten? Ich sehe nicht, dass das Buch und das Internet einander ausschließen. Gerade als protestantische Kirche sollten wir neue und “alte” Medien nutzen, um die frohe Botschaft bekannt zu machen.

  2. Ich stimme Olav Richter zu: OER gibt es derzeit kaum. Auch rpi-virtuell beginnt gerade erst in einer offenen Arbeitsgruppe, diesen Begriff für sich zu erschließen. Wir stehen da noch ganz am Anfang mit einer großen Vision von offenem Ressourcen, offenen Lernräumen und offenem Unterricht und einem digitalen Schulbuch. OER ist eine Bewegung und nicht einfach ein fertiges Produkt. Es soll nicht didaktische Entscheidungen vorgeben, sondern sich den didaktischen und pädagogischen Vorgaben als dienlich erweisen. OER ist nichts für schnell mal eben… auch nicht vorgedachter Unterricht. OER steht vielmehr für das gemeinsame Nachdenken und Entwickeln von gutem Unterricht.

    Ein weiteres Missverständnis ist die Sache mit der Vergütung. Vergütungen muss es weiterhin geben, natürlich auch für OER. Medienproduktion kostet Geld. Aber: OER lassen sich im Unterschied zu Inhalten aus einem Schulbuch auch außerhalb des Buches nutzen, weiterentwickeln und anpassen und wieder zu neuen OER zusammenfügen, weil es die Lizenz so vorsieht. Wünschenswert ist deshalb, dass Gelder, die zuvor ungebremst in Schulbuchkäufe und limitierte Unterrichtsmedien geflossen sind, künftig in die Entwicklung von OER fließen. Darin sehe ich nicht zuletzt auch eine politische (und mit Verlaub auch protestantische) Aufgabe.

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