Grundlegende Gedanken von Horst Heller und Jörg Lohrer zum Religionsunterricht in einer vernetzten Gesellschaft unter den Eindrücken der Pandemie
Digitalität und religiöse Bildung – Aspekte einer digitalen Religionsdidaktik
CC BY Horst Heller und Jörg Lohrer
In den Wochen des Lockdown waren Unterricht, Dienstbesprechungen, Konferenzen und Tagungen im Präsenzformat untersagt. Und doch fanden Begegnungen und Gespräche statt. Videokonferenzen, Messengerdienste und Social Media ermöglichten Kommunikation und überwanden Social Distancing. Auch die Schulen begaben sich auf den Weg und erprobten digitale Lernwege. Bei Weitem nicht alles gelang. Doch vielerorts war ein Anfang einer digitalen Umgestaltung von Lehr- und Lernprozessen gemacht.
Wenn der Virus eines Tages nicht mehr gefährlich ist, wird diese umfassende Transformation unseres Lebens nicht mehr verschwinden. Wie werden sich Unterricht und Lernen verändern? Welche didaktischen Konzepte führen auf digitalen Lernwegen zum Kompetenzerwerb? Und welche Veränderungen bringt diese Entwicklung für den Religionsunterricht?
In den Wochen, in denen Spielplätze gesperrt waren und Menschen einander nicht begegnen durften, machte das Wort vom Social Distancing die Runde. Die Schließung von Schulen, Geschäften und Treffpunkten zur Gestaltung von Freizeit führte dazu, dass die Menschen gezwungen waren, Geselligkeit in den digitalen Bereich zu verlagern und unzählige neue Räume online für sich erschlossen. Der epochale Wandel, von den einen herbeigesehnt, von den anderen mit Argwohn erwartet, war nun unerwartet schnell und für jede und jeden sichtbar, notwendig und real geworden. Begegnungen und Gespräche in digitalen Formaten verbreiteten sich schnell über Messenger-Dienste, Social Media und andere gängige Kommunikationswege. Diese waren bereits etabliert, erhielten aber nun noch einmal enormen Zulauf von denen, die diesen Kommunikationskanälen bisher skeptisch gegenüber gestanden hatten. Auch wenn die Gefahr des Virus eines Tages gebannt sein wird, wird die umfassende digitale Transformation unseres gesamten Lebens nicht wieder verschwinden und verlangt Konzepte, wie sie auf allen Ebenen verantwortlich genutzt werden kann. Auch die Schule und der Religionsunterricht sind gefordert, ihre Bildungsaufgaben im Kontext einer digitalen Umgebung neu zu reflektieren und zu modifizieren. Die Pandemie hat diesen Aufgaben Nachdruck verliehen.
Digitalisierung – eine epochale Transformation
Umwälzungen in dieser Größenordnung machen Angst und wirken auf den ersten Blick dramatisch. Wir sollten uns also fragen, ob sie nicht auch gelassener betrachtet werden können. Ein Blick auf die Kulturgeschichte der Menschheit ist da aufschlussreich. Sie lässt sich als ein stetiges Voranschreiten im Kompetenzerwerb rund um die elementaren Kulturtechniken lesen und in vier Epochen einteilen:
Dem Stammesleben, das sich über Sprache organisierte, folgte eine Epoche der Institutionen, für die Schriftsprache konstitutiv war. Als drittes schloss sich mit der Erfindung der Buchdruckkunst eine Epoche der Massenmedien und der darüber verbundenen Organisation von Märkten an. Mit der Digitalisierung stehen wir nun am Übergang zur nächsten Organisationsform unserer Gesellschaft, denn nun sind es schnell agierende Netzwerke, die Struktur geben. So schlicht diese Analyse und Beschreibung von Soziologen wie David Ronfeldt oder Dirk Baecker daherkommen, so einleuchtend sind sie. Sie helfen zugleich die Komplexität des tiefgreifenden Wandels, der alle Bereiche unserer Gesellschaft durchdringt, auf das Wesentliche zu reduzieren.
Die vier großen Medienepochen der Menschheitsgeschichte sind folglich die tribale Sprachkultur, die antike Schriftkultur, die moderne Buchdruckkultur und die postmoderne Computerkultur. Jedes Leitmedium ist eng damit verbunden, wie sich die Gesellschaft organisiert und Bildung versteht. Kennzeichnend für jede Gesellschaftsform ist, dass sie uneingeschränkt auf die Mechanismen und Errungenschaften der jeweils vorherigen Epochen zurückgreift. Sie nimmt sie auf und nutzt sie zur Gestaltung der nächsten Gesellschaft.
„Die Stammesgesellschaft ordnet die Risiken der mündlichen Kommunikation durch eine Rückversicherung in den Evidenzen der Wahrnehmung. Die antike Gesellschaft lässt die Einführung der Schrift zwar zu, beschwört jedoch zugleich das Gespräch als das wichtigste Medium der Verständigung. Die moderne Gesellschaft lässt sich auf Masseneffekte der Verbreitung von Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und Flugblättern ein, die durch keine Autorität mehr zu kontrollieren sind, pflegt jedoch zugleich eine penible Hermeneutik des Schreibens und Lesens, als käme es auf jedes einzelne Wort noch an. Und die nächste Gesellschaft verankert ihre Experimente mit den Rechenprozessen der vernetzten Computer ausgerechnet in jenen Sozialen Medien, die nach dem Muster der Tageszeitung, doch unter Mitarbeit von Jedermann, Nachrichten, Werbung und Unterhaltung kaum noch unterscheidbar auf einander beziehen und auseinander entwickeln.”
Dirk Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Berlin 2007.
Es ist also nicht zu hoch gegriffen: Wir stehen am Beginn einer globalen Veränderung, welche die Art und Weise, wie wir lehren und lernen, grundlegend verändern wird. Der Übergang in die neue Epoche gestaltet sich allerdings schwierig. Denn anders als die Sprache und die Schrift sind die gedruckten Worte und aufgezeichneten Medien kein Gemeingut. Zumeist haben wir es mit urheberrechtlich geschützten Medien zu tun, mit denen sich auch zu Bildungszwecken nicht frei arbeiten lässt, was besonders juristische und praktische Probleme und Unwägbarkeiten im Zuge des Lernens unter den Bedingungen der Digitalisierung aufwirft.
Home Learning in der Pandemie – Neue Kreativität und viel Mittelmaß
Am 13. März 2020 fand in den meisten Bundesländern der letzte Schultag vor dem Lockdown statt. (Fast) alle Schülerinnen und Schüler mussten wochenlang zu Hause lernen. Die meisten Schulen, Bildungseinrichtungen und Schulbehörden waren auf diesen abrupten Wandel der Lernkultur nicht gut vorbereitet. In kürzester Zeit mussten technische, konzeptionelle und organisatorische Vorbereitungen getroffen werden, um das Recht auf Bildung für alle wenigstens rudimentär zu sichern. Lehrerinnen und Lehrer aller Schularten nahmen die Herausforderung an, ihre Schülerinnen und Schüler mit digital übermittelten Lernaufträgen zu versorgen. Erstmalig standen alle vor einer Aufgabe, die in Deutschland bislang nur wenige geleistet hatten: Lernen in Distanz zu organisieren und durchzuführen.
Die Vielfalt der Aktivitäten in dieser Zeit war enorm. Präsentationen, Erklärfilme und Arbeitsblätter wurden erstellt und hochgeladen oder versendet. Recherchen, Erarbeitungen und Übungen, Portfolios und kreative Projekte wurden beauftragt. Zur Kommunikation dienten Briefe, Videokonferenzen, E-Mail oder Messenger-Dienste. Die Grundschulen beschränkten sich weitgehend auf Lernangebote für die Hauptfächer, andere Schulen versuchten, allen Fächern Raum zu geben, manche Förderschulen blieben geöffnet.
Je länger die Schließung dauerte, umso offensichtlicher wurde, dass es nicht ausreichte, Hausaufgaben zu stellen. Schülerinnen und Schüler klagten, wie sehr ihnen die Schule fehlte, Lehrerkollegien luden kreative Onlinegrüße für die gesamte Schulgemeinschaft hoch („Ihr fehlt uns!“). Lehrerinnen und Lehrer suchten nach Möglichkeiten des Kontaktes mit einzelnen Schülerinnen und Schüler und mit ihren Lerngruppen. Videokonferenzen mit und ohne Gruppenarbeit, Chats auf Lernplattformen, interaktive Coachings durch das Teilen des Bildschirms und ein individuelles Feedback wurden geübt und erprobt. Um Lernen zu ermöglichen, waren Begegnungen nötig. Auch die Kollegialität im virtuellen Lehrerzimmer erlebte eine bundesweite Renaissance. Lehrpersonen vernetzten sich bundesweit über soziale Netzwerke und neue Hashtags.
Durchwachsene Bilanz: In der Zeit der Schulschließungen war es weitgehend den Familien überlassen, die Situation zu meistern.
Trotz einer ungeahnten Kreativität auf Seiten der Schulen und einer schnellen Reaktion der Ministerien und Bildungsbehörden und vorbehaltlich einer Evaluation lassen Rückmeldungen eine Bilanz mit Licht und Schatten erwarten. Im Einzelnen:
- Durch das Distanzlernen konnten offenbar nicht die Lernfortschritte erzielt werden, die der Präsenzunterricht erreicht hätte. Sogar von Rückschritten war zu hören.
- Während der Zeit des Distanzlernens gelang es oft nicht, die motivierende Dimension einer physisch anwesenden Lerngruppe zu ersetzen. Es gab Schülerinnen und Schüler, die sich hervorragend organisieren und intrinsisch motivieren konnten, aber viele schafften das nicht.
- Distanzlernen war vor allem ein hilfreiches Angebot für ältere Schüler oder solche aus bildungsaffinen Familien. Jüngere profitieren weniger.
- Distanzlernen übertrug es den Familien, die Situation zu meistern. Eltern sahen sich genötigt, mit ihren Kindern den Tag zu strukturieren, technischen Support zu leisten, die Lerninhalte zu erklären und die Ergebnisse zu überprüfen. Aus Home Learning wurde Home Schooling.
- Durch das Distanzlernen wurden die höchst unterschiedlichen technischen Voraussetzungen offenbar, über die die Schülerinnen und Schüler zu Hause verfügten.
- Arbeitsaufträge wurden oft als didaktisch wenig sinnvoll und monoton empfunden. Ihre Relevanz für einen Lernfortschritt erschloss sich nicht immer.
- Während des Distanzlernens – insbesondere zu Beginn – klagten Schülerinnen, Schüler und ihre Eltern über eine Fehleinschätzung bezüglich der benötigten Arbeitszeit. Der Zeitaufwand wurde oft unterschätzt.
- Distanzlernen machte soziale Unterschiede offenbar. Nicht alle Schülerinnen und Schüler verfügten über Stützungs- und Stärkungssysteme zu Hause.
- Distanzlernen nötigte Schülerinnen und Schüler, Häusliches und Privates offenzulegen. In Videokonferenzen waren Schülerinnen und Schüler aufgefordert, sich in der Umgebung ihrer Wohnung zu zeigen. Wenn sie dazu die Videofunktion deaktivierten, konnte das mehrere Gründe haben. Wollten sie datensparsam kommunizieren oder wollten sie eine (zeitweise) Abwesenheit von ihrem Arbeitsplatz unsichtbar machen? Möglicherweise war aber es aber auch der Wunsch, ihre private Umgebung verbergen zu können (Scham).
Bildungsgerechtigkeit, Leistungsbewertung und Kindeswohl
Fachleute hatten gewarnt, dass Distanzlernen die „Bildungsschere“ weiter öffnen könnte. Lernstarke Kinder und Jugendliche aus bildungsaffinen Familien konnten die Zeit der Schulschließung besser überstehen als andere. Eltern, die möglichweise selbst Lehrerinnen und Lehrer waren, ersetzten den ausgefallenen Unterricht so gut wie möglich. Die Bildungsgerechtigkeit nahm Schaden. Um einen Ausgleich zu finden, riefen manche Bundesländer Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf früher in den Präsenzunterricht zurück als andere. In Rheinland-Pfalz wurde eine freiwillige Sommerschule organisiert, zu der sich 20.000 Kinder anmeldeten. In einem Land, in dem der Schulerfolg noch immer von der sozialen Schicht der Familie abhängt, waren solche Maßnahmen auch unverzichtbar.
Das Problem der Leistungsbewertung: Die Benotung von Erarbeitungen im Home Learning war untersagt, zumindest unerwünscht. An ihre Stelle sollte ein wertschätzendes und pädagogisch verantwortetes Feedback treten. Vielfach wurde aber dagegen verstoßen. Ähnlich wie bei Hausaufgaben waren Schülerinnen und Schüler, die Hilfe von Eltern, Geschwistern oder Verwandten in Anspruch nehmen konnten, im Vorteil. Eine Kriterien geleitete Bewertung der Mitarbeit bei Online-Konferenzen war eigentlich kaum möglich und erfolgte dennoch. In Einzelfällen kam es vor, dass die durch Verwaltungsvorschriften vorgesehenen, aber wegen der Schulschließung nicht erbrachten Leistungsnachweise nach der Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts vorrangig und mit Hochdruck nachgefordert wurden. Das Motiv für diese problematischen Folgen des Distanzlernens liegt auf der Hand. Leistungsbewertungen mit ihren juristischen Implikationen sowie Zeugnisse und Abschlüsse bestimmen das pädagogische Handeln der Schule weit mehr als nötig. Wenigstens eine Nichtversetzung wurde in der Regel vermieden.
Schulschließung und Kindeswohl: Alle Familien gaben ihr Bestes. Doch viele Kinder waren zu Hause Konflikten, erzieherischer Inkompetenz, ungefiltertem und unbegrenztem Medienkonsum, übergriffigem Verhalten, Gewalt oder Schlimmerem ausgesetzt. Dass der geschützte Raum der Schule mit den vertrauten Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern wegfiel, war für diese Kinder schlimm – manchmal sogar gefährlich. Lehrpersonen hatten also allen Grund zur Sorge, wenn es nicht möglich war, Kontakt zu den Familien zu halten. Aber auch Kinder, die zu Hause weder Gewalt noch Vernachlässigung ausgesetzt waren, litten unter dem Kontaktverbot, den abgesperrten Spielplätzen und unter der Vereinzelung.
Was tun wir da eigentlich?: Parallel zur Organisation des Alltags nahm die didaktische Reflexion des Distanzlernens Fahrt auf. Die Hinweise von Axel Krommer, Philippe Wanpfler und Wanda Klee wurden auf der Seite des NRW-Bildungsministeriums veröffentlicht, diskutiert und befruchteten die unterrichtliche Praxis. Sie wurden allerdings auch kritisch aufgenommen, weil sie die mittelmäßige Praxis des Distanzlernens in der Pandemie kaum erwähnten, die so anders aussah als das beschriebene Ideal, und weil sie die Lernpsychologie jüngerer Schülerinnen und Schüler zu wenig bedachten.
Was wir gelernt haben – Der Versuch einer ersten Bilanz
Unbeschadet dieser vorläufigen Zusammenfassung und einer noch ausstehenden wissenschaftlichen Auswertung des Distanzlernens in der Zeit der Schulschließung kann schon jetzt festgehalten werden:
- Die Zeit des Lockdown machte überdeutlich, dass die Schule mehr als ein Ort des Lernens, sondern auch ein Ort der Begegnung ist. Nur wenn sich die Lerngruppe auch regelmäßig physisch trifft, gelingen die virtuellen Begegnungen. Das Schulgebäude, in dem Lernende und ihre Eltern sowie Lehrende miteinander kommunizieren, ist dafür unverzichtbar und wird in der Zukunft vermutlich höher geschätzt werden als bisher.
- Hatten die Schulträger den Aufbau von Lernplattformen, digitalen Lernwelten und die Ausstattung mit Hardware, Software und einer zufriedenstellenden Netzabdeckung bislang vernachlässigt oder verschoben, so ist nun Eile angesagt, denn lokale Lockdowns sind auch nach der Rückkehr zur Normalität nicht ausgeschlossen. Dennoch ersetzt die Anschaffung von Tablets kein Konzept.
- Nicht die jüngsten Schülerinnen und Schüler, die die Schule am meisten vermisst hatten und die sie am nötigsten brauchten, durften als erste zurückkehren, sondern die Prüfungsjahrgänge, die von den digitalen Lernangeboten mehr profitiert hatten. Was hätte dagegen gesprochen, nicht nur Virologen und Lehrerverbände vor dem Neustart zu befragen, sondern auch die Klassensprecherin und Klassensprecher, die Schülervertretungen und die Familien? Warum wurden sie nicht gehört, als es um die Fragen ging, wer wann in die Schule zurückkehren darf wäre. Gerade unter Pandemiebedingungen wäre das ein Signal der Kooperation, der Transparenz und ein Beitrag zur Förderung der demokratischen Mitwirkung gewesen.
- Wie jede Krise war auch die Pandemie als Chance. Trotz aller Probleme bei der Organisation des Distanzlernens war die Lust an der Gestaltung der neuen Möglichkeiten erkennbar. Lernende und Lehrende machten sich auf Entdeckungsreise, um die fast unendliche Fülle von Materialien, Vorschlägen Ideen zu nutzen. Es entstanden neue Online-Portale wie www.religionsunterricht.net, die zur Mitarbeit und zum weiteren Aufbau einluden. Es entstanden erste Ideen für eine Seelsorge auf Distanz und wissenschaftlich reflektierte religionspädagogische Kommunikation https://news.rpi-virtuell.de/podcast/ und https://t1p.de/relpod. Diese ergänzten die schon vor der Pandemie verfügbaren Ressourcen. Dezentrale Initiativen der Mitgestaltung wie der #relichat auf Twitter und informelle Begegnungsräume, wie das Videokonferenzformat #relichat-CAFÉ entfalteten Beteiligungs- und Teilhabemöglichkeiten für Religionslehrkräfte.
Religionsunterricht digital: Bildung für, mit, durch und in der Digitalität
Das Internet pädagogisch fruchtbar zu machen, bedeutet weit mehr, als es zur Recherche zu nutzen. Religionsunterricht will mehr als Sachwissen vermitteln. Er will den großen Fragen des Lebens nachspüren und junge Menschen und Lerngruppen zu Prozessen anstoßen. Dabei knüpft er eng an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler an. Diese allerdings hat sich in den letzten Jahren grundlegend gewandelt. Religionspädagogik muss das berücksichtigen, denn mediendidaktisch und medienethisch ist niemand Digital Native. Vier Aspekte gilt es zu unterscheiden:
Bildung für die Digitalität
Die medial geprägte Lebenswelt und der Erwerb von Medienkompetenz ist ein Anliegen der Schulbildung, auch der religiösen Bildungsprozesse. Medien zu verstehen und zu bewerten sowie sie selbst zu gestalten, erfordert pädagogische Bildung, die sowohl eine kritische Aneignung als auch eine Distanzierung ermöglicht.
Bildung mit der Digitalität
Medienlernen bindet Digitales als konstruktive Elemente in Lernprozesse ein. Für den Religionsunterricht bedeutet das, dass der Mediengebrauch sich nicht auf traditionelle Inhalte beschränkt, sondern dass er Gelegenheit gibt, sich neue Inhalte auf dem Weg der Mediennutzung anzueignen.
Bildung durch digitale Medien
Das wichtigste Motiv, warum Medien im Unterricht genutzt werden, ist ein soziales. Junge Menschen partizipieren an digitalen Netzwerken. Sie tun das aus dem gleichen Motiv heraus, warum sie auch Freunde in der Nachbarschaft treffen. Analoge und soziale Netzwerke sozialisieren gleichermaßen. Nur entstehen in und über Medien zunehmend relevante digitale Räume. Die Funktion der Medien zur Vermittlung von (religiösen) Inhalten gilt es auch in den Unterricht zu integrieren.
Bildung im digitalen Raum
Schließlich geht es darum, an der Gestaltung der Medienwelt mitzuwirken. Ein verantwortbarer Religionsunterricht anerkennt die informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen, integriert Verschlüsselung, Datenschutz und Privacy. Deshalb sollten sich Materialien, die der religiösen Bildung dienen, dem Prinzip der Offenheit verpflichtet sein und ohne Hürden allen zur Verfügung stehen.
Digitalität und christliches Menschenbild
Nach jüdisch-christlichem Verständnis gehört Bildung zu den Grundbedürfnissen und Grundrechten des Menschen. Bildung – nicht nur religiöse Bildung – darf nicht an finanziellen oder sozialen Schranken enden und gegen den Grundsatz der gerechten Partizipation verstoßen. Dieser Wert wurzelt in dem biblischen Verständnis des Menschen als Geschöpf und enthält im Kern den demokratischen Grundsatz einer umfassenden Teilhabe. Auf Fragen der Bildung angewendet, bedeutet er, dass gute Bildungsmedien allen zugänglich sein sollten.
Lernmedien – offen und frei zugänglich
Die in der Pandemie verstärkt genutzte Option einer Vernetzung befeuerte Idee einer Entwicklung von offenen und freien Lehr- und Lernmedien für alle (OER, Open Educational Resources). Dieses Projekt setzt auf die Kraft weit verbreiteter fachkompetenter Netzwerke und versteht sich als Überwindung der verlagsbasierten Schulbücherkultur. Während diese einen bestimmten Lernweg vorsehen, versprechen OER mehr Vielfalt, denn jede und jeder ist aufgefordert, eine Vielzahl guter Materialien und Unterrichtsvorschläge zur freien Nutzung zu erarbeiten und öffentlich zugänglich zu machen. Im Einzelnen:
– OER gerantiert einen freien Zugang zu digitalen Lernunterlagen für sämtliche Akteure und denkt dabei auch an die Möglichkeit des Selbststudiums und an neue Lernformen wie Webinare und Online-Lernangebote.
– OER ermöglicht eine Nutzbarkeit dieser Unterlagen, weil sich die Frage der Lizenzierung nicht sich nicht mehr stellt. OER sind haben offene Lizenzen (z. B. Creative Commons)
– OER sind offen einsehbar für alle Beteiligten des Lernprozesses und schafft so Transparenz und Vergleichbarkeit
– OER sind flexibel einsetzbar und können variabel kombiniert werden. Sie sind damit geeignet, um Lernprozesse zu individualisieren.
– OER sind auf optionale Modifikation, auf Feedback und Remix angelegt. Damit enthalten sie Potential für Optimierung und Innovation.
– OER stehen in einem qualitätsorientierten Wettbewerb, der bislang nur unter den Schulbuchverlagen existiert.
Zwei Fragen, die sich stellen
In diesem Zusammenhang wird oft das sympathische und optimistische Motto “Netzwerk schlägt Hierachie” zititert. Statt die didaktischen Entwicklungen wenigen Schulbuchverlagen und ihren Autoren zu überlassen, wollen Netzwerke alle Beteiligten, also Institute, Wissenschaftler, Lehrpersonen (auch solche in Ausbildung) in eine stete Verbindung zueinander bringen. Das Expertentum der Betroffenen ist gefragt.
Kann es gelingen, dass auf diese Weise hochwertiges und methodisch vielfältiges Arbeitsmaterial entsteht? Wie können Qualitätsprogramme und Qualitätssicherung im Netz organisiert werden? Wertvolle Materialien sind wissenschaftlich und pädagogisch auf dem Stand der Didaktik, sie aktivieren Schülerinnen und Schüler zu eigener Lernarbeit, sie sind ansprechend gestaltet und fördern ästhetische Kompetenzen. Kommerzielle Interessen sind ausgeschlossen oder deutlich markiert, datenschutzrechtliche Fragen sind mitgedacht. Können Online-Communities hier die Spreu vom Weizen trennen? Staatliche oder kirchliche Genehmigungsverfahren (Hierarchien) jedenfalls scheiden aus, sie sind bezüglich der Beurteilung von Online-Angeboten zu langsam und schnell überfordert. Andererseits benötigen Netzwerke bei einem wie immer gestalteten Gütesiegel die Unterstützung einer wissenschaftlichen Religionspädagogik und das Expertenwissen der Fachleute. Eine Bewertung von Bildungsangeboten ist etwas anderes als ein Ranking von Hotelzimmern, Gaststätten und Gebrauchtwagenhändlern.
Während OER Netzwerke – in Verbindung mit vernetzten Online-Fortbildungsangeboten – bereits im Aufbau sind, wird ein zweites didaktisches Problem erstaunlicherweise wenig diskutiert. Eine Lehrperson muss nicht nur eine große Zahl von Unterrichtsreihen planen, sie muss den Prozess aufbauenden Lernens organisieren, der wie ein Bogen über mehrere Schuljahre gespannt wird und das Lernen kumulativ organisiert. Unterrichtsbausteine müssen Vorkenntnisse und bereits erworbene Kompetenzen berücksichtigen, festigen und vertiefen. Lerninhalte müssen miteinander verzahnt und verknüpft werden. Ohne eine sorgfältige Planung eines spiralcurricularen Lernens gelingen die Übergänge zwischen den Schulformen nicht. Eine einzelne Lehrperson ist ohne fachliche Hilfe – auch in Kooperation mit ihrer Fachschaft – dazu kaum in der Lage. Netzwerke und Hierarchien müssen auch in dieser Frage lernen, voneinander zu profitieren.
Digitalität und neue Inhalte des Religionsunterrichts
Mit der erweiterten digitalen Wirklichkeit, die zu der Welt der jungen Menschen gehört, verändert sich auch der Themenkatalog des Religionsunterrichts. Mindestens folgende Fragen stellen in digitalen Lernprozessen neu oder anders:
Fragen nach Wahrheit und Lüge (FakeNews)
Individualethische (Sexualität und Scham) und sozialethische Fragen (Globalisierung)
Aspekte des Menschenbild angesichts eines Lebens im digitalen Raum:
- Freiheit und Würde (Cyber-Mobbing)
- Identität (Selfies, Selbstinszenierung, Accountgestaltung)
- Glück
- Kommunikation, auch weltweit, auch interreligiös
Kirche anders entdecken: Wenn Pfarrerinnen und Pfarrer Gottesdienste auf YouTube anbieten und über Instagram Gebete und kirchliche Gemeinschaft Gemeinschaftsangebote verbreiten, ändert sich auf die theologische Sicht auf Kirche.
Religionsunterricht: Der klassische Präsenzunterricht hat nicht ausgedient.
Die digitale Welt eröffnet also dem Religionsunterricht vor allem in anthropologischen und ethischen Fragen sowie in der Begegnung mit anderen Religionen neue Themenfelder. Warum aber werden andere Lernbereiche weit seltener genannt, wenn es um eine digitale Transformation des Religionsunterrichts geht? Wie hören die Schülerinnen und Schüler von biblischen Geschichten? Wie begegnen sie Jakob und Esau, Rebecca, Rut und Noomi? Wie lernen sie die Gleichnisse Jesu zu deuten? Wie entdecken sie die Schätze der biblischen Weihnachtsgeschichten? Wie erwerben sie bibeldidaktische Kompetenzen? Wie lernen sie eine Positionierung in den großen Fragen des Lebens? Fast scheint es, als profitierten ganze Lernbereiche des Religionsunterrichts weniger von digitalen Lernwegen als andere.
Die Religionsdidaktik hat in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Ansätzen entwickelt, die mit allen Sinnen, mit Haptik, Performanz und Imagination arbeiten. Die Beschreibung, Deutung und Weiterentwicklung eines Bodenbilds, eine Exkursion ins Museum, eine Mahlfeier im Religionsunterricht und Achtsamkeitsübungen lassen sich nur bedingt digitalisieren. Wo es in der Pandemie dennoch versucht wurde, verloren sie einen Teil ihres Wertes. Das klassische Unterrichtsgespräch hat keinesfalls ausgedient. Es ist vor allem dann nicht zu ersetzen, wenn eine Positionierung angestrebt wird. Dafür gelingt es, in Videokonferenzen Experten zu begegnen und mit ihnen zu diskutieren, auch über klassische Lernfelder, was im Präsenzunterricht nicht möglich gewesen wäre. Digitale Lernwege und klassische Methoden des Präsenzunterrichts bieten Chancen, beide sind auf eine didaktische Reflexion angewiesen.
Kinder und Digitalisierung
Als während der Schulschließung überlegt wurde, in welcher Reihenfolge die Jahrgänge zurück in die Schule kommen sollten, gab es den Vorschlag, zunächst die Jüngsten zuzulassen. Diese Überlegung setzte sich bedauerlicher Weise nicht durch, denn Schülerinnen und Schüler der Grundschule benötigen bei der Erledigung von Arbeitsaufträgen in der Regel mehr Anleitung und sind auf Routinen angewiesen, die im Präsenzunterricht eingeführt und eingeübt worden sind. Vor allem aber brauchen Sie die enge Kommunikation mit der Lehrperson und mit der Lerngruppe. Sie möchten Zwischenschritte ihrer Arbeiten zeigen, Sie profitieren von Lob und Ermutigung. Für sie ist die physische Anwesenheit der Lehrperson essenziell. Die Schule ist für sie Heimat und ein Ort des sozialen Lernens, an dem sie Rituale praktizieren, die sie nicht entbehren können. Das gilt für alle Fächer der Grundschule, insbesondere aber für den Religionsunterricht. Das gemeinsame Nachdenken und Deuten im Religionsunterricht der Grundschule ist auf die Unmittelbarkeit im Umgang miteinander angewiesen. Virtuelle Gruppen können dies nur unvollkommen ersetzen.
Täuscht der Eindruck, dass die Befürworter einer digitalen Transformation des Religionsunterrichts dies zu wenig bedenken? Haben sie vor allem Jugendliche und junge Erwachsene im Blick, die bereits über kognitive Grundkenntnisse und über Überblickswissen verfügen und sich Fehlendes auch schnell und eigenständig erarbeiten können? Viele im Internet angeboten Tools, Videos und Vorschläge geben vor, für Kinder erarbeitet worden zu sein, sind aber bezüglich Sprechtempo, Gedankengang, Inhalt und Sprache nicht für Kinder geeignet, orientieren sich jedenfalls nicht an einer aktuellen Religionsdidaktik der Grundschule.
Dennoch ist auch die Primarstufe dem Ziel verpflichtet, ihre Schülerinnen und Schüler zu einem selbstbestimmten und verantwortlichen Umgang mit Medien zu befähigen. Tablets, Apps und ihre Funktionsweise sind auch Gegenstand im Grundschulunterricht, ethische Fragen der Mediennutzung werden bereits thematisiert. Aber das Lernen für, mit und durch digitale Medien erfolgt im Kindesalter anders. Digitale Medien nehmen noch nicht den Stellenwert ein, den sie für Jugendliche haben. Der Trend allerdings ist eindeutig.
Kontrollverlust? – Aspekte einer notwendigen Debatte
In der Debatte um die Didaktik im digitalen Raum wird immer wieder gefordert, die Lehrperson müsse bereit sein, die Kontrolle über den Lernprozess abzugeben. Ohne Kontrollverlust seien neue und offene Lehr- und Lernprozesse nicht denkbar. Dieser Grundsatz grenzt sich von einer Didaktik der Instruktion ab, in der die Lehrperson allein über Wissen und Kompetenzen verfügte und es ihren Schülerinnen und Schülern „beibrachte“. Im digitalen Zeitalter ist das Wissen nicht mehr allein im Lehrbuch zu finden, sondern – im besten Fall: frei zugänglich – im Netz verfügbar. Zwar ist es dort oft wenig oder gar nicht didaktisiert und selten altersgemäß aufbereitet. Auch ist nicht sicher, dass es dort frei von tendenziösen Schattierungen oder kommerziellem Interesse ist. Aber wer in der Schule die entsprechende Medienkompetenz erworben hat, kann sich dennoch dieser digitalen Ressourcen bedienen. Die öffentliche Verfügbarkeit des Wissens ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, ganz andere und innovative Lösungen zu suchen. Zwei Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein: Die Schülerinnen und Schüler haben zuvor die Fähigkeit eines lernförderlichen Umgangs mit der unübersichtlichen Vielfalt der Informationsquellen im Internet erworben. Und der Unterricht gewährt ihnen die Freiräume zu ihrer Nutzung.
Ein guter Religionsunterricht verzahnt im Sinne einer schülerorientierten Didaktik digitale und analoge Lernwege miteinander.
Dennoch ist der Begriff des Kontrollverlustes keine passende Kategorie zur Beschreibung pädagogischer Prozesse. Auch im klassischen Unterricht hat die Lehrperson nie die vollständige Kontrolle über den Lernweg. Sie kann nicht darauf verzichten, den Lehrprozess anzustoßen, zu steuern, ja wenn nötig auch zu korrigieren. Zielführender als der Begriff Kontrollverlust ist es deshalb wohl, von der Gewährung von Freiheit oder von Vertrauen in die Lernenden, möglicherweise sogar von einer „Demokratisierung“ des Lernprozesses zu sprechen. Ein guter Unterricht bezieht Lernbereitschaft und unterschiedliche Lerntypen in die Planung ein, differenziert und macht die Lernenden zu Herrinnen und Herren ihres eigenen Lernprozesses. Schülerinnen und Schüler, die diese Freiheit haben, überraschen oft mit einem Lernzuwachs, der auf die gesamte Lerngruppe ausstrahlt und auch die Lehrperson einschließen kann.
Der Religionsunterricht hat seine “Gegenstände” nicht in der Hand
Die Religionsdidaktik weiß es allerdings schon lange: Das Reden von Gott, das Nachdenken über Jesus und selbst die Begegnung mit dem Ich erfordert eigene und individuelle Antworten. Die Reflexion über die großen Fragen des Religionsunterrichts lebt davon, dass Schülerinnen und Schüler ihre Antworten kommunizieren und modifizieren. Ein guter Religionsunterricht gibt dem viel Raum. Lehrende und Lernende sind gemeinsam auf dem Weg. Dabei geht es nicht im Sinne eines „Gut, dass wir darüber geredet haben“ um die Entdeckung einer Vielfalt der Deutungen allein. Das Ziel ist immer, dass Schülerinnen und Schüler sich vorläufig positionieren. Die Rede vom Kontrollverlust – mag dieses Wort auch nicht glücklich gewählt sein – steht also im besten Fall für die schülerorientierte Didaktik eines jeden Unterrichts, insbesondere aber des Religionsunterrichts, der digitale und analoge Lernwege miteinander verzahnt. Lehrpersonen sind Initiatoren, Organisatoren, Experten, Anleiter und Begleiter eines offenen Prozesses.
Der Beitrag ist zeitgleich auch im Blog von Horst Heller veröffentlicht worden.
Eine Langfassung dieses Beitrags erscheint am 30.09.2020 in der religionspädagogischen Zeitschrift Entwurf (Heft 3/2020)
https://www.friedrich-verlag.de/religion-und-ethik/entwurf/
Bildquellen:
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