Der Europarat ist eine im Vergleich zur Europäischen Union eher weniger bekannte Institution. Sie umfasst im Prinzip das „größere Europa“ etwa das des European Song Contests und hat das Ziel, auf ein demokratisches Europa hinzuarbeiten. Seit dem Ende des Kommunismus gehören ihm fast alle Staaten Europas an – darunter auch einige nicht ganz „lupenreine Demokratien“.…
Rezension: Signposts – ein Wegweiser des Europarats auch für die deutsche Religionspädagogik?
Der Europarat ist eine im Vergleich zur Europäischen Union eher weniger bekannte Institution. Sie umfasst im Prinzip das „größere Europa“ etwa das des European Song Contests und hat das Ziel, auf ein demokratisches Europa hinzuarbeiten. Seit dem Ende des Kommunismus gehören ihm fast alle Staaten Europas an – darunter auch einige nicht ganz „lupenreine Demokratien“. Von Zeit zu Zeit werden Empfehlungen vom Ministerkomitee (Außenminister der 47 Mitgliedstaaten) oder der Parlamentarischen Versammlung erarbeitet, die aber für die Mitgliedstaaten keinen verpflichtenden Charakter haben. Ein solches Dokument liegt uns in Gestalt der Broschüre „Signposts“ vor. Das etwa hundertseitige Dokument steht in der Tradition anderer Veröffentlichungen etwa zur Propagierung der Menschenrechte oder des interkulturellen Lernens. Signposts ist insofern eine Novität, als hier erstmals Religion(en) eine zentrale Rolle spielen. Die zu begrüßende Einsicht ist, dass im Spiel von Identität und Verständigung zwischen den verschiedenen ethischen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft Religion offenbar eine wichtige Funktion einnimmt. Es geht hier also um eine Empfehlung, wie das Miteinander der pluralen Gruppen im Bildungssystem sinnvoll organisiert werden kann.
Abgefasst wurde das Dokument von dem renommierten englischen Religionspädagogen Robert Jackson – auf der Grundlage der Resultate einer Arbeitsgruppe. Der Beitrag richtet sich an politische Entscheider, aber auch an Schulen und Institutionen der Lehrerbildung. Für ein Dokument dieser Art argumentiert es recht praxisnah unter Einbeziehung entsprechender Studien und Berichte. Das Dokument versteht sich in einer Tradition weiterer Veröffentlichungen zur Forderung von Menschenrechten und Demokratie. Faktisch ist das Dokument eine Werbeschrift für das im UK entwickelte Modell des „teaching about religion“. Es geht dabei – im Gegensatz zu einem teaching in religion im Sinne einer Einsozialisation in eine bestimmte Religion – um eine religionskundliche Information über die diversen Religionen, dann aber auch, worauf Signposts hinweist, um Begegnung mehr mit den Vertreter/innen der verschiedenen Überzeugungen als um ein Gegenüber zu einem geschlossenen Konzept bzw, mehreren Konzepten. Es geht um das Verständnis der Religion (des jeweils anderen) von innen heraus, also um Empathie. Dazu gilt es, die Sprachen, Ausdrucksformen und Gefühle des Anderen nachvollziehen zu können (21). Dabei tauchen die Fragen auf, die sich bei der Begegnung mit gelebter Religion immer stellen: das Ausbalancieren von Identifikation und Unterscheidung. Mit diesen angemessen umgehen zu können, formuliert das Dokument als „Kompetenz“. Diese wird nun wiederum eingezeichnet in ein Feld interkulturellen Lernens. Wichtig ist die Auseinandersetzung bzw. Begegnung mit konkreten Einzelnen und ihrer jeweiligen religiösen Überzeugung (36). Bedeutsam ist auch das interpretative Hineinversetzen in den Andern mit der Option, dann seine Motive und Handlungsalternativen im Sinne eines Gedankenexperiments nachvollziehen zu können (43). Doch auch der interpretative Zugriff auf Dokumente der verschiedenen Religionen wird ausdrücklich thematisiert (33ff). In einem eigenen Kapital entfaltet der Text den Gedanken eines „safe space“. Vielleicht im Nachklang dessen, was in der deutschen Pädagogik einmal als „pädagogische Provinz“ bedacht worden war, geht es hier darum, dass der Schule zugetraut wird, dass es ihr gelingen kann, die in der Gesellschaft vorhandenen Konflikte und Spannungen in Schule und Klassenraum in einer Weise aufzunehmen, zu gestalten und zu moderieren, dass niemand zurückgesetzt oder beleidigt wird, so dass Formen von Verstehen und Verständigung möglich werden. Doch auch hier ist die Rolle der Lehrperson von entscheidender Bedeutung. Dass diese Perspektive auf den je Einzelnen in Spannung steht zur Präsentation der Religionen in den Medien wird wahrgenommen. Ein eigenes Kapitel ist den „non-religious convictions and worldviews“ gewidmet. Es mag eine Konzession an das Konzept der laïcité in Frankreich sein, dass die nichtreligiösen Weltanschauungen eine eigene Betrachtung erfahren. Andererseits trägt ihr Nebeneinander mit den Religionen auch zu ihrer Relativierung bei. Gemäß der Grundintention der Schrift ist es konsequent, ein eigenes Kapitel zur Frage der Menschenrechte anzuschließen. So treten etwa die zu garantierenden Ansprüche einzelner Religionen in bestimmten Bereichen in Widerspruch zu gewissen Freiheitsrechten. Dies manifestiert sich im Klassenzimmer in Bezug auf bestimmte Kleidungen oder religiöse Symbole. Ausdrücklich wird empfohlen, die religiösen Institutionen, Personen und Orte in die Religionsbegegnung einzubeziehen.
Die in der Überschrift angeschnittene Frage, was dies für die deutsche Diskussion bedeuten kann, ist nicht schwer zu beantworten. Angesichts von weit über 50 Lehrstühlen evangelischer, katholischer und neuerdings islamischer Religionspädagogik und zahlreicher religionspädagogischer Institute hat die Diskussion und Praxis ein Niveau, wie es von Signposts als Ziel anvisiert wird. Eine mögliche Rezeption eines „Teaching about religion“, wie es Signposts thematisiert, lässt sich in der deutschen Szene immer unterschiedlich thematisieren. Oft wird dabei an institutionelle Bedingungen wie etwa RU im Klassenverband gedacht. Ich würde – angesichts der großen Unterschiede innerhalb Deutschlands, sowohl hinsichtlich der Religiosität der Schüler/innen als auch der institutionellen Regelungen – den Fokus gerne auf die konkreten Vorschläge des Buches legen. Es finden einerseits hierzulande an vielen Schulen Aktivitäten im Sinne von Signposts bereits statt und an dieser Stelle (und bei der entsprechenden Schulung der Lehrkräfte) liegt wohl auch das größte Anregungspotential der Studie. Was an der Studie am imponierendsten ist, sind die Einblicke in gelungene Praxismodelle und der Gedanke des „safe space“, der weiter bedacht werden könnte. Was das Dokument nicht anspricht und als politisch gemeinter Impuls vielleicht auch nicht ansprechen muss, ist gleichwohl der Gedanke, in welcher Weise denn die Mitglieder der einzelnen Religionen das notwendige Wissen ihrer eigenen Denomination erwerben sollen.
Darüber hinaus gibt das Dokument absichtlich und z.T. auch unbeabsichtigt einen guten Einblick in europäische Diskurse. Der Text ist auf Englisch verfasst und er verarbeitet faktisch nur englischsprachige Literatur. Die Länder, deren pädagogische Situation berücksichtigt wird, sind die der protestantischen Ökumene: UK, Skandinavien, Niederlande und z.T. Deutschland. Auf der Basis dieser Erfahrungen wird ein Modell des Miteinanders in pluralistischen Situationen entworfen und mit eindrücklichen Beispielen belegt. Die implizite – z.T. auch explizite – Botschaft lautet: Wenn ihr unsere Ratschläge übernehmt, dann wird das zu einem Zuwachs an demokratischer Kultur führen. Doch geht das, wenn die katholisch-geprägte Kultur der romanischen Länder oder Polens ebenso wenig in den Blick kommt wie die orthodox-geprägte Welt (Süd-)osteuropas? Mein Einwand meint zweierlei: Es ist gewiss richtig, dass das Defizit an demokratischer Kultur in den einzelnen Staaten unterschiedliche – aber häufig auch religiöse – Ursachen hat und dass es legitim ist, bewährte westliche Beispiele zu propagieren. Es wäre dazu aber in einer solchen Veröffentlichung doch wichtig, vorhandene, wenn vielleicht auch schwache, Stimmen aus diesen Ländern zumindest zu zitieren. Zum anderen ist es ja noch nicht ausgemacht, ob der durch Migration und z.T. den Kolonialismus entstandene Pluralismus in Ländern wie den Niederlanden oder England dasselbe ist wie das oft über Jahrhunderte „gepflegte“ Nebeneinander auf dem Balkan. Funktionieren da dieselben pädagogischen Modelle? In dem Kapitel über die „human rights“ werden die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Rechte des Einzelnen thematisiert. Doch ist das Programm des Europarates universalistisch im Sinne einer höheren Entwicklung oder ist es ein Programm, dem nichtwestliche Entwürfe (mit eigenem Rechtsanspruch?) gegenüberstehen? Gerade als Sympathisant von „Signposts“ muss man zumindest diese Frage kennen und eine Antwort bereit haben.
Signposts ist im August 2014 erschienen und kann hier beim Council of Europe im Online Bookshop bezogen werden.
ISBN 978-92-871-7914-2