Interview zur Jesusforschung: Gründet der christliche Glaube auf dem historischen Jesus?

Das neue Schuljahr beginnt und Jesus Christus steht in der Oberstufe wieder einmal im Mittelpunkt. Prof. Jens Schröter bietet ein paar Updates aus der aktuellen Jesusforschung mit denen sich Jesus zugleich als “wahrer Mensch” und “wahrer Gott” im Religionsunterricht erschließen lässt. Wolfgang Franz weist in seinem reliblog auf  Prof. Jens Schröters Artikel ‘Jesus im Judentum seiner Zeit‘  (PDF-Datei) aus…

Das neue Schuljahr beginnt und Jesus Christus steht in der Oberstufe wieder einmal im Mittelpunkt. Prof. Jens Schröter bietet ein paar Updates aus der aktuellen Jesusforschung mit denen sich Jesus zugleich als “wahrer Mensch” und “wahrer Gott” im Religionsunterricht erschließen lässt.

Prof. Dr. Jens Schröter

Wolfgang Franz weist in seinem reliblog auf  Prof. Jens Schröters Artikel ‘Jesus im Judentum seiner Zeit‘  (PDF-Datei) aus der Zeitschrift ‘zur debatte‘, der Katholischen Akademie in Bayern hin. Auch die Zeitschrift “zeitspRUng”, für den evangelischen Religionsunterricht in Berlin und Brandenburg widmete dem Thema ein ganzes Heft: “Jesus Christus: Wer ist dieser?” (PDF-Datei) mit neueren Forschungserkenntnissen und zahlreichen unterrichtspraktischen Beispielen. Das folgende “Interview” mit Prof. Schröter ist aus seinem Artikel im letztgenannten Heft entstanden:

Was hat es historisch gesehen mit Jesus und dem “Christus”-Titel auf sich?

Prof Schröter: Am Beginn des christlichen Glaubens stehen das Wirken und Geschick des galiläischen Juden Jesus von Nazareth, der um das Jahr 30 der an ihm orientierten Zeitrechnung öffentlich aufgetreten ist und wenig später in Jerusalem von den Römern am Kreuz hingerichtet wurde. Bereits in den frühesten christlichen Zeugnissen wird Jesus allerdings nicht einfach als jüdischer Wanderprediger und Prophet aufgefasst. Vielmehr bezeichnen ihn schon die ältesten Bekenntnisse als von Gott in die Welt gesandten Sohn, der vor der Entstehung der Welt bei Gott war und nach seinem Tod von ihm auferweckt und erhöht wurde.1 Die Pointe des christlichen Glaubens besteht dementsprechend in der Verbindung von göttlicher Würde und menschlichem Wesen – in der Sprache der späteren Bekenntnistradition: von göttlicher und menschlicher Natur – Jesu.2 Prägnant auf den Punkt gebracht wird dies in der Bezeichnung „Jesus Christus“, die eine Kurzform des Bekenntnisses „Jesus ist der Christus“ darstellt und die Überzeugung formuliert, Jesus sei Gottes Gesalbter, an den zu glauben allein zum Heil führt.

Diese Sicht war für den christlichen Glauben lange Zeit unhinterfragte Grundlage. Sie wurde zum Problem, als im 18. Jahrhundert die aufgeklärte Vernunft zum Maßstab für Glaubensaussagen und zum Kriterium der Interpretation biblischer Texte avancierte. Nunmehr wurde fraglich, ob historische Ereignisse den Charakter überzeitlicher Gewissheiten erlangen können – konzise zusammengefasst in Lessings berühmter Gegenüberstellung von zufälligen Geschichts- und ewigen Vernunftwahrheiten.3 Fraglich wurde aber auch, ob die Deutungen der Person Jesu mithilfe antiker „mythischer“ Kategorien – als wunderbar gezeugter Gottessohn, mit übermenschlichen Fähigkeiten begabter Wundertäter und vom Tod auferweckter Erlöser – dem aufgeklärten Bewusstsein überhaupt noch zugänglich sind.

Was bedeutet die Gegenüberstellung von der Person Jesu und dem Heilsbringer Christus für die erkenntnistheoretische Grundlage der Jesusforschung?

Prof Schröter: Die Frage nach dem „historischen Jesus“ sah ihre Aufgabe zunächst darin, Wirken und Geschick Jesu unter Absehung vom christlichen Bekenntnis allein mit den Methoden historisch-kritischer Wissenschaft zu erforschen.4 Die Spannung zwischen historischer Kritik und christlichem Bekenntnis ist auf diese Weise zu einem die Jesusforschung kontinuierlich begleitenden Problem geworden. Sie kann als diametraler Gegensatz aufgefasst werden und zu der Konsequenz führen, ein Bild von Jesus nur auf das historisch-kritisch Verifizierbare zu gründen. Diese Tendenz findet sich bereits am Beginn der historisch-kritischen Jesusforschung bei Hermann Samuel Reimarus, in neuerer Zeit etwa bei John Dominic Crossan und Wolfgang Stegemann.5 Diese Spannung kann aber auch, gerade umgekehrt, zur Infragestellung eines vom christlichen Bekenntnis losgelösten Jesusbildes führen und zu der Auffassung verdichtet werden, der geschichtlich wirksam gewordene Jesus sei gerade der vom christlichen Glauben bezeugte, wogegen eine hiervon absehende historische Rekonstruktion ein künstliches und letztlich ungeschichtliches Produkt darstelle. Eine solche Sicht findet sich am Ende des 19. Jahrhunderts bei Martin Kähler, später dann bei Rudolf Bultmann und Luke Timothy Johnson.6 Schließlich kann das Verhältnis von historischem Jesus und Christus des Glaubens auch als dynamische Verbindung aufgefasst werden, in der historische Ereignisse und ihre Deutung untrennbar miteinander verknüpft sind. Diese Auffassung vertrat zuerst David Friedrich Strauß, in der aktuellen Diskussion findet sie sich etwa bei James D.G. Dunn.7 Gelegentlich wird in der gegenwärtigen Jesusforschung deshalb auch vom „erinnerten“ statt vom „historischen“ Jesus gesprochen, um zum Ausdruck zu bringen, dass auch die historisch-kritische Jesusforschung Quellen der Vergangenheit zusammensetzt und aus der Sicht des jeweiligen Interpreten deutet.8 Auch die historische Kritik dringt demnach nicht zu den „eigentlichen historischen Tatsachen“ vor, sondern entwirft ein hypothetisches, revidierbares Bild der Vergangenheit. Eine geschichtshermeneutisch reflektierte Sicht auf Jesus wird sich dessen bewusst sein.9

Wie lässt sich Jesus mit heutigen Erkenntnissen in das antike beziehungsweise präziser: das galiläische Judentum einordnen?

Prof Schröter: Neuere Forschungen haben gezeigt, dass Jesus – wie in analoger Weise auch Paulus – in den jüdischen Traditionen seiner Zeit steht, sie auf eigene Weise aufnimmt und auf sein Wirken bezieht. Markant sticht dabei der hohe Anspruch ins Auge, den Jesus mit seinem eigenen Auftreten verbindet und der in der Selbstbezeichnung „Menschensohn“ programmatisch zum Ausdruck kommt. In dieser verdichtet sich sein Selbstverständnis, als Mensch im Auftrag Gottes und als dessen exklusiver Repräsentant zu wirken, an dem die Entscheidung über Heil und Unheil fällt. In konzentrierter Form kommt dies in dem Wort über das Bekennen und Verleugnen des Menschensohnes (Lk 12,8f./Mt 10,32f.) zum Ausdruck, in dem das Bekenntnis zu Jesus in direkte Beziehung zum Ergehen im endzeitlichen Gericht gerückt wird.

Im Zentrum des Auftretens Jesu steht demnach der Selbstanspruch, mit seinem Wirken die Herrschaft Gottes aufzurichten. Dies manifestiert sich in den verschiedenen Dimensionen seines Wirkens: Seine Mahlgemeinschaften mit Benachteiligten und Ausgegrenzten sind ein symbolischer Vorgriff auf das Leben im Gottesreich, seine Nachfolgegemeinschaft mit dem Zwölferkreis im Zentrum ist der Kern des erneuerten Israel, seine Machttaten lassen die Nähe Gottes erfahrbar werden, seine Gleichnisse zeichnen die Wirklichkeit als von Gott bestimmte Ordnung, seine Auslegung der Tora bringt den darin zum Ausdruck kommenden Gotteswillen zur Geltung.

Auf diese Weise werden zugleich die Schriften und Traditionen Israels in neuer Weise gedeutet und auf den Glauben an Gott und die Nachfolge Jesu hin geordnet. Soziale und politische Implikationen, wiewohl sie nicht im Zentrum seines Auftretens stehen, gehören gleichwohl zu seinen Konsequenzen. Das ist allerdings nicht im Sinn eines sozialrevolutionären Programms aufzufassen. Das Galiläa der Zeit Jesu war – anders als mitunter angenommen – nicht durch soziale Unruhen geprägt, Aufstände sind für die Zeit des Herodessohnes Antipas, in die auch das Wirken Jesu fällt, nicht belegt, und auch eine Besetzung durch römisches Militär lässt sich erst für das 2. Jahrhundert nachweisen.10 Die von Jesus berufenen Nachfolger sind keine Armen oder Tagelöhner, sondern Menschen aus gängigen Berufen (Fischer vom See Genezareth, Zolleinnehmer), die für ihre Beteiligung am Wirken Jesu – zumindest zeitweise – Familie und Beruf aufgeben, um den Anbruch des Gottesreiches anzusagen und seine Ordnung mit ihrem Auftreten als bedürfnislose Wanderprediger symbolisch zu veranschaulichen (vgl. die Aussendungsreden der synoptischen Evangelien).

Archäologische Forschungen in Galiläa in den zurückliegenden Jahrzehnten haben das sich aus den literarischen Quellen ergebende Bild auf eigene Weise präzisiert und bestätigt.11 Galiläa, so zeigte sich, war keine multiethnische Region, sondern erlebte nach der makkabäischen Eroberung (104/103 v. Chr.) eine deutliche Zunahme jüdischer Besiedlung und blieb auch nach der Neuordnung Syriens und Palästinas durch den römischen Feldherrn Pompejus (64 v. Chr.) jüdisch geprägt. Kennzeichnend für die Zeit Jesu sind weiter die Einbindung Galiläas in internationale Handelsbeziehungen (etwa durch den Export von Keramik, Öl und Fisch) sowie ein vor allem mit dem Wiederaufbau des 4. v. Chr. zerstörten Sepphoris sowie der Neugründung von Tiberias (ca. 19 n. Chr.) verbundener wirtschaftlicher Aufschwung.

Wie versteht sich Jesus denn selbst?

Prof Schröter: Wenn Jesus sein eigenes Wirken als Aufrichtung der Herrschaft Gottes deutet, hat dies zuerst und vor allem den an Israel gerichteten Ruf zur Folge umzukehren, sich der Gemeinschaft mit ihm zu öffnen und sich konsequent am Willen Gottes auszurichten. Offenbar hat Jesus die Dringlichkeit dieser Forderung von Johannes dem Täufer übernommen, der das unmittelbar bevorstehende Gericht Gottes angesagt hatte, vor dem nur die konsequente Umkehr, besiegelt durch die von ihm vollzogene Taufe im Jordan, bewahren könne. Anders als Johannes, zu dessen Jüngerkreis Jesus vermutlich eine zeitlang gehörte, hat Jesus jedoch die von ihm selbst begründete Gemeinschaft als denjenigen Raum betrachtet, in den einzutreten die Voraussetzung dafür bildet, zu Gott und seinem Heil zu gelangen.

Das Wirken Jesu ist demnach als spezifische Interpretation seines Selbstverständnisses als eines galiläischen Juden aufzufassen. „Judentum“ und „Christentum“ – schon die Begriffe wären für diese frühe Phase anachronistisch – stellen dabei natürlich noch keinen Gegensatz dar, vielmehr bildet sich innerhalb Israels eine Gemeinschaft derjenigen heraus, die den Anspruch Jesu, in der Autorität Gottes zu wirken, positiv aufnehmen und in seine Nachfolge eintreten.

Was kam es dazu, dass sich Judentum und Christentum zu einem Gegenüber entwickelt haben?

Prof Schröter: Früher Ausdruck davon sind die Konflikte, die um Jesu Selbstverständnis entstehen. Für die jüdischen Autoritäten war dieses eine Blasphemie, die die Einzigkeit Gottes verletzt (vgl. Mk 2,7; 14,64), für die Anhänger Jesu war es die Grundlage für ein neues Verständnis des Gottes Israels und der heiligen Schriften. Dies führte auf der einen Seite dazu, in Jesus den erwarteten Gesalbten aus dem Geschlecht Davids zu sehen, auf der anderen Seite zur Anklage wegen Gotteslästerung und zur Auslieferung an die Römer, die in Judäa und Jerusalem durch einen Präfekten (zur Zeit Jesu war dies Pontius Pilatus) regierten und sich das Recht, die Todesstrafe zu vollstrecken, vorbehalten hatten.

Verschiedene Personen aus seinem Umfeld – Frauen, der Zwölferkreis (insbesondere Petrus), weitere Jünger – haben nach der Kreuzigung und Grablegung die Erfahrung gemacht, dass Jesus wiederum, wenn auch in anderer Weise, präsent ist. Diese offenbar visionären Erfahrungen bildeten den Ausgangspunkt dafür, trotz seiner grausamen Hinrichtung in Jerusalem am Glauben an ihn festzuhalten, ihn als von Gott gesandten Sohn und auferweckten und erhöhten Herrn zu bekennen und auch sein irdisches Wirken im Licht dieses Bekenntnisses zu interpretieren.

Wie würden sie heute eine Verhältnisbestimmung von „historischem Jesus“ und dem „Christus des Glaubens“ vornehmen?

Prof Schröter: Diese beiden Perspektiven auf Jesus stehen sich, das zeigen die voranstehenden Ausführungen, nicht beziehungslos gegenüber. Die aktuelle Jesusforschung hat sein Wirken in Galiläa und Jerusalem in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts präzisieren und konkreter in sein soziales, politisches und religiöses Umfeld einzeichnen können, als dies in früheren Forschungsphasen der Fall war. Zugleich wurde deutlich, dass die Frage, wie sein Wirken und Geschick zum Ausgangspunkt einer Gemeinschaft werden konnte, die in ihm den entscheidenden Repräsentanten Gottes sieht, selbst eine historische Frage ist, die dem christlichen Glauben als einer von diesen Ereignissen herkommenden Religion stets aufs Neue aufgegeben ist.

Dr. Jens Schröter ist Professor für Neues Testament an der Humboldt-Universität zu Berlin.

1 Vgl. etwa Phil 2,6-11; Röm 10,9; Kol 1,15-20; Hebr 1,3.

2 So explizit im Chalcedonense: „wesensgleich dem Vater der Gottheit nach, wesensgleich uns derselbe der Menschheit nach“.

3 G.E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Gotthold Eph- raim Lessing’s sämmtliche Schriften. Fünfter Band, Berlin 1825, 75-85, 80: „zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von nothwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.“

4 Als Beginn dieser Entwicklung werden in der Regel die von G.E. Lessing unter dem Titel „Fragmente eines Ungenannten“ zwischen 1774 und 1778 herausgegebenen Texte des Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus aus dessen Schrift „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ angesehen. Eine vollständige Ausgabe dieser Schrift erschien 1972 in Frankfurt/M., hg. von G. Alexander.

5 Vgl. Reimarus (Anm. 4); J.D. Crossan, The Historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, San Francisco 1991; W. Stegemann, Jesus und seine Zeit (Biblische Enzyklopädie 10), Stuttgart 2010.

6 M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche bibli sche Christus, Leipzig 1928  (zuerst 1892); R. Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, 445-469; L.T. Johnson, The Real Jesus. The Misguided Quest for the Historical Jesus and the Truth of the Traditional Gospels, San Francisco 1996.

7 D.F. Strauß, Das Leben Jesu kritisch bearbeitet, 2 Bände, Tübingen 1835/36; J.D.G. Dunn, Jesus Remembered (Christianity in the Making, Volume I), Grand Rapids, Mich.; Cambridge, U.K. 2003.

8 Vgl. dazu etwa das Themenheft „Der erinnerte Jesus“, ZNT 20 (2007).

9 Vgl. dazu ausführlicher J. Schröter, Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt (BG 15), Leipzig 2006 (4. Auflage 2012), 14-68.

10 Vgl. S. Freyne, Galilee, Jesus and the Gospels. Literary Approaches and Historical Investigations, Philadelphia 1988; ders., Galilee and Gospel. Collected Essays (WUNT 125), Tübingen 2000.

11 Vgl. J.L. Reed, Archaeology and the Galilean Jesus. A Re-examination of the Evidence, Harrisburg 2000; M.A. Chancey, Greco-Roman Culture and Galilee of Jesus (MSSNTS 134), Cambridge 2005.

 

Jörg (rpi-News-Autor) Lohrer
Jörg (rpi-News-Autor) Lohrer
Artikel: 869

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