Lehrkräfte dauerhaft entlasten – wie das gehen kann

Im Mittelpunkt der Lehrtätigkeit steht nach evangelischem Bildungsverständnis die intensive Beziehungsarbeit mit Schülerinnen und Schülern. Damit Lehrkräfte dafür die notwendige Zeit haben, müssen wir sie bei anderen Tätigkeiten signifikant entlasten.

In ihrer Stellungnahme empfiehlt die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) Maßnahmen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel. Sie zielen darauf ab, den Einsatz qualifizierter Lehrkräfte zu verbessern und den Bedarf zu senken.

https://www.kmk.org/aktuelles/artikelansicht/einsatz-optimieren-bedarf-senken-swk-empfiehlt-zeitlich-befristete-notmassnahmen-zum-umgang-mit-dem.html

Die beschriebenen “Notfallmaßnahmen” sind, wie das Papier erahnen lässt, Maßnahmen, die wahrscheinlich auch auf Dauer zu einer Festschreibung erhöhter Arbeitsbelastung führen, da es kurz- und mittelfristig nicht möglich ist, den Lehrkräftemangel zu beheben. Kolleginnen und Kollegen in der Schule sind schon jetzt häufig überlastet. Nicht wenige sind in Teilzeit, weil eine Vollzeitstelle defacto einer 50-60 Stunden Arbeitswoche entspricht. Hier von “Reserven im System” zu reden, klinkt zynisch. Fatal ist, wenn die Krisenbewältigung nicht auf die Stärkung des Bildungssystems ziehlt, wenn es nicht um die SuS geht, sondern den Verantwortlichen ein “Immer-Weiter-So” zubilligt. Dass diese Krise eine Folge jahrzentelanger Versäumnisse auf Entscheiderebene ist, brauche hier nicht weiter ausgeführt werden. Wenn jetzt (leider) Fakt ist, dass es nicht mehr Lehrkräfte gibt, weil nicht mehr ausbildet wurden, kann die Lösung nicht bei der bei der Rekrutierung von “Reserven” gesucht werden, sondern muss bei der Stärkung und Unterstützung der vorhandenen Unterrichtenden ansetzen.

Ich formuliere die Frage so: Wie können Lehrkräfte von Tätigkeiten entlastet werden, die auch von anderen Berufsgruppen oder zentral geleistet werden könnten?

Im Mittelpunkt der Lehrtätigkeit steht in meinem Bildungsverständnis die intensive Beziehungsarbeit mit Schülerinnen und Schülern (SuS). In der Pandemie wurde deutlich, wie fatal sich die Vernachlässigung dieses Faktors auf die Gesundheit und Entwicklung von Kindern auswirkt. Beziehungsarbeit braucht Zeit. Eine einfache Erhöhung der Unterrichtsstunden (Arbeitszeit) für Lehrkräfte und der Anzahl von SuS in ihren Lerngruppen als Krisenintervention ist kontraindiziert.

Lösungsansätze sehe ich vor allem in Unterstützungssystemen, die Schulen und Lehrkräften von außen zusätzlich bereitgestellt werden können. Dazu gehören Maßnahmen, die Vorbereitungs- und Korrekturzeiten von Lehrkräften deutlich verringern. Einen Großteil der Zeit verbringen Lehrkräfte mit der Produktion von Unterrichtsmedien, deren effektiver Nutzen in der Regel erst im Laufe der Zeit und häufig gar nicht evaluiert werden kann. Ebenso zeitintensiv sind die Erstellung von Klausuren und deren Korrekturen und die damit verbundene Problematik von Leistungsfestellung, Feedback und Beurteilung.

Nicht wenige dieser Arbeiten könnten auch von außerschulischen, staatlich oder durch Schulträger beauftragten Einrichtungen zentral übernommen werden. Zentralen Unterstützungseinrichtungen könnten die Leistungsfestellung etwa mit Hilfe von digitalen Tests übernehmen. Weiterhin könnten sie unter Zuhilfenahme von KI-Systemen und in Korrelation zu den Ergebnissen der Prüfungen, digitale Lernmedien, die für selbstreguliertes Lernen geeignet sind, erstellen (lassen). Diese Medien wiederum könnten von den Lehrkräften an den individuellen Lernfortschritt von SuS angepasst werden. Durch solche Entlastung würden Lehrkräfte für intensivere, individuelle Begleitung und Coaching Zeit gewinnen. Mehr Zeit für’s Erklären und für die Schaffung eines positiven Lernklimas führt zu besseren Lernergebnissen. Sicherlich gibt es noch weitere Aufgaben im Alltag einiger Lehrkräfte mit Sonderfunktionen, die auch andere Fachkräfte erledigen könnten.

Weiterhin könnten offene Lernräume mit Lerninseln Arrangements erlauben, die bisherige Vorstellungen von gleichzeitig zu beaufsichtigen Kindern durch Lernbeleiter:innen deutlich erweitern und zusätzliche Zeit für individuelle Förderung einzelner SuS schaffen könnten. Hier gibt es bereits erfolgreiche Modellprojekte, die Mut machen Schule größer und attraktiver zu denken.

Das erfordert Umdenken, zeitgemäßes Engagement und zusätzliche Ressourcen von Verantwortlichen, Trägern und Behörden. Was wir brauchen ist kein Notfallpacket, sondern einen “Bildungswumms”. Denn es geht um nicht weniger als um die Vorbereitung der SuS auf die gigantischen Herausforderungen unserer Zukunft. Das sollten uns einiges an Investitionen wert sein.

Joachim Happel
Joachim Happel

Mitgründer und Entwickler einer religionspädagogischen Austausch-Plattform, die seit 2002 unter dem Namen "virtuelles religionspädagogisches Institut" (rpi-virtuell) als Einrichtung der EKD und seit 2008 am Comenius-Institut angegliedert ist. - Evang. Pfarrer, Informatiker und Experte für neue Lerntechnologien, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Comenius Institut, zuständig für die Koordination und Entwicklung von rpi-virtuell. - Weitere Arbeitsschwerpunkte: E-Learning, Freie Bildungsmedien (OER), Digitalisierung in Bildungsprozessen religionspädagogischer Einrichtungen

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