Fromm von Anfang an?

Löwenmensch vom Hohlenstein-Stadel im Lonetal (Schwäbische Alb), 40.000 Jahre alt, Skulptur aus Mammut-Elfenbein. Foto: Yvonne Mühleis © Landesamt für Denkmalpflege im RP Stuttgart/Museum Ulm

Den “Löwenmenschen” aus Mammut-Elfenbein haben Eiszeitjäger vor 40.000 Jahren in einer Höhle auf der schwäbischen Alb hinterlassen. Er gilt als einer der frühesten Artefakte unserer Gattung Homo sapiens. Seine Entdeckung gleicht einem Forschungskrimi mit glücklichen Zufällen, die 2013 abgeschlossene Rekonstruktion war nach mühsamem 3D-Puzzlespiel aus hunderten von Bruchstücken ein sensationeller Erfolg der Paläoarchäologie aus dem…

Den “Löwenmenschen” aus Mammut-Elfenbein haben Eiszeitjäger vor 40.000 Jahren in einer Höhle auf der schwäbischen Alb hinterlassen. Er gilt als einer der frühesten Artefakte unserer Gattung Homo sapiens. Seine Entdeckung gleicht einem Forschungskrimi mit glücklichen Zufällen, die 2013 abgeschlossene Rekonstruktion war nach mühsamem 3D-Puzzlespiel aus hunderten von Bruchstücken ein sensationeller Erfolg der Paläoarchäologie aus dem “Ländle” und ist im Museum Ulm (s.u. bei vimeo) zu sehen. Die Höhlen mit noch weiteren Funden erhielten im Juli 2017 die Auszeichnung als UNESCO-Welterbestätten “Höhlen und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb”.

Doch ohne schriftliche Zeugnisse bleibt die 30-cm-Puppe (Barbie´s Ken hat bezeichnenderweise ähnliche Maße) rätselhaft und gibt viel Raum für Deutungen. Ist das schon Religion? Und wenn ja, welche Wahrheit geben uns unsere Vorfahren da mit?

Als ein Ergebnis der mehrwöchigen Fortbildung “ALPIKA digital” für Mitarbeitende religionspädagogischer Institute der EKD steht dazu jetzt ein Selbstlernkurs (mit LMS LearnDash unter rpi-virtuell) bereit. Er lädt zur freien Erprobung ein, und ist auch für den Unterricht geeignet (Bildungsplanbezüge s.u.). Attraktive und aufwändige Kurzvideos des SWR (mit nachgestellten Steinzeit-Spielszenen) und vielfältige Unterrichtsmaterialien dienen zum selbständigen Erarbeiten in mehreren Lektionen. Sie sollten am besten nacheinander in der seitlichen Navigation angesteuert werden, sich eigens anzumelden empfiehlt sich nicht. Die interaktiven Aufgaben müssen sich größtenteils auf die Verständnissicherung beschränken – für die notgedrungen offene Fragestellung und die Sek.II-Alterszielgruppe weist das vielleicht schon die Grenze von digitalen Selbstlernkursen auf. Denn am Ende wartet das Lernergebnis in Form einer Abstimmung – und da gibt es keine “richtige” Antwort …

[su_vimeo url=”https://vimeo.com/84775619″]

Bildungsplanbezüge: BP B.-W. 2016, REV Gymnasium / Oberstufe an Gemeinschaftsschulen (Kl. 11-12): 3.4.3 Gott – Schülerinnen können “unterschiedliche Zugänge zur Gottesfrage … darstellen” (TK 1), 3.4.6 Religionen und Weltanschauungen – Schüler*innen können “sich mit lebensförderlichen und destruktiven Wirkungen von Religion und nichtreligiösen Weltdeutungen auseinandersetzen” (TK 1) und “Kriterien für einen konstruktiven Umgang mit der Wahrheitsfrage zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen formulieren” (TK 2)

Hintergrund: Herkömmlicher Religionsunterricht, wie ihn die bundesdeutsche Verfassung vorsieht, ist am Bekenntnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft orientiert. Er wird im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs zunehmend infragegestellt: es gibt eine verbreitete Stimmung, die interkulturelle Durchmischungen infolge der Globalisierung zunehmend als persönliche Überforderung erlebt. Sie betrachtet Religion(en) für reibungslos funktionierendes Zusammenleben mehr als Teil des Problems als Teil der Lösung. Bisher wurde erst durch Beschäftigung  mit der Wahrheitsfrage aus dem Inneren bekenntnisorientierten Unterrichts jedweder Konfession heraus die Haltung des friedlichen Miteinanders als möglich erachtet: weil man nur auf dem Standpunkt des eigenen Bekenntnisses die Wahrheit des Bekenntnis des anderen anerkennen kann.  Dass Bekenntnisorientierung diesen Friedensimpuls freisetzt, wird zunehmend nicht mehr als plausibel erlebt. Geängstigt durch bedrohlich wirkende Übergriffserlebnisse “wahrer” Religion (z.B. Kopftuchfrage, Heiliger Krieg des IS, radikale Sekten) vertraut man statt dessen auf einen anderen gesellschaftlichen Umgang mit Religion: den des religionswissenschaftlichen Vergleiches. Das ermöglicht eine distanzierungsfähige “Behandlung”, die eher zu Ethik / Lebenskundlichem Unterricht passt. Allerdings läuft diese Neutralisierung auf eine Dispensierung der Wahrheitsfrage hinaus.

Genau deshalb mag die Beschäftigung mit kulturellem Erbe wie dem “Löwenmenschen” so attraktiv sein: Es stammt aus Zeiten weit vor dem Entstehen der heutigen verfassten Religionen. Und mit Spuren allgemein-menschheitlicher, “ursprünglicher” Transzendierungsfähigkeit geben wir uns viel lieber ab als mit dem mühsamen Streit um existentielle Wahrheit heute – wir glauben damit einen tragfähigen Minimalkonsens in Sachen Religion anzusteuern. Doch ist das schon Religion im Sinne wahrhafter Daseinsvergewisserung? Denn Vorsicht: die Forschungsgeschichte des Löwenmenschen zeigt, dass ihn auch schon die Nazis für ihre Zwecke gebrauchen konnten. Und abgesehen von der völlig anderen Lebenssituation einer nichtsesshaften, vorindustriellen Jägerkultur stehen von der Warte monotheistischer Schrift-Weltreligionen (Judentum, Christentum, Islam) aus solche stummen kultisch intendierten Abbildungen immer unter  Verdacht: als götzendienerischer Fetisch-Aberglaube, der uns versklavt statt uns befreit und in unserem Dasein vergewissert. Andererseits: in den interreligiösen Dialog gilt es heutzutage unter den Bedingungen zivilisationsbedingter Umweltzerstörung mehr denn je Minderheiten sog. “Naturreligionen” respektvoll einzubeziehen . Ihre schamanistisch-totemistischen religiösen Traditionen wirken dem “Löwenmenschen” sehr ähnlich. Auch ihre Wahrheit muss gewürdigt werden – einen Standpunkt kolonialistisch-imperialistischer Überlegenheit gegenüber den angeblich “primitiven Wilden” will heute sicher niemand mehr einnehmen!

 

Michael Beisel
Michael Beisel

Pfr. Michael Beisel ist Lehrkraft für Evang. Religion am Beruflichen Bildungszentrum Ettlingen.

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