Diskussion: Alles fließt – Declaration of Liquid Culture

In ihrer “Declaration for Liquid Culture” erklären Jörg Blumtritt, Benedikt Köhler und Sabria David, wie sie meinen, dass wir leben werden. Eine Hommage an das Netz und eine Provokation hinsichtlich Urheberrecht, Identität und Religion:    Declaration of Liquid Culture Präambel: Die Geschichte ist nicht zu Ende – sie verflüssigt sich. Wenn wir in einem Boot…

In ihrer “Declaration for Liquid Culture” erklären Jörg Blumtritt, Benedikt Köhler und Sabria David, wie sie meinen, dass wir leben werden. Eine Hommage an das Netz und eine Provokation hinsichtlich Urheberrecht, Identität und Religion: 

 

Declaration of Liquid Culture

Präambel: Die Geschichte ist nicht zu Ende – sie verflüssigt sich.

CC BY-NC-SA himmelskratzer http://flic.kr/p/hzfVn

Wenn wir in einem Boot auf dem Fluss fahren, erkennen wir unsere eigene Bewegung am vorbeiziehenden Ufer. Dass immer wieder neue Uferabschnitte vor uns auftauchen, während wir andere, an denen wir gerade vorübergefahren sind, hinter uns lassen, empfinden wir als Fortschritt. Je breiter der Fluss, desto weniger können wir unsere eigene Bewegung bemerken – bis wir auf dem freien Meer unser Bezugssystem, an dem wir Fortschritt festmachen, ganz verloren haben.

Enge Ufer geben unserer Bewegung eine eindeutige Richtung und eine klare Orientierung, weite Ufer geben uns Bewegungsfreiheit.

In diesem Moment fahren wir auf einem Fluss, dessen Ufer immer weiter werden. Wir können sie zwar noch erkennen, aber es ist eher die Erinnerung daran, dass wir sie vor kurzem noch nahe vor Augen hatten, die uns das Gefühl von Bewegung nach vorne vermittelt. Die Moderne verschwindet. Die Postmoderne sind die letzten, offenen Marschwiesen. Jammern wir nicht alten Ufern nach, die vorbeigezogen sind. Freuen wir uns auf die offene See.

Declaration of Liquid Culture

Liquid Democracy: “Sprich mit uns, sprich nicht für uns”

Wir fassen Menschen nicht zu Mengen zusammen, um sie dann durch ein typisches Exemplar repräsentieren zu lassen. Wir brauchen keine Zielgruppen mehr, kein Gender, keine ethnische Herkunft, um Menschen als einzelne für sich sprechen zu lassen. Strukturen der Repräsentation – auch wenn sie als “Volk”, als “Staatenbund”, als “Parteien” weiter bestehen – bedeuten uns nichts mehr.

Unsere Demokratie ist flüssig geworden. Aktives und passives Wahlrecht werden deckungsgleich. Jeder tritt für sich selbst ein und auf. Jeder spricht mit gleicher Stimme, aber das nicht nur, um seine Vertreter zu wählen, sondern um direkt mitzugestalten.

Liquid Identity: Wir sind viele

Unsere Identität lässt sich nicht mehr in eine starre Form pressen. Der willkürliche Name, den wir geerbt haben, steht neben unseren wahren Namen, die wir uns selbst geben. Unsere Nicknames, Handles und Avatare sind Teil unserer körperlichen Manifestation – wie unsere Frisur oder Kleidung.

Liquid Economy: Sharing is Caring

Teilen ist das neue Haben. Güter sind nicht nur zum Besitzen da, sondern zum Teilen, Tauschen, Weiterschenken und gemeinsam Nutzen. Konsum ist kein Selbstzweck. Wir sind Millionen, bald Milliarden, die vernetzt die Welt gestalten. Wir verteilen unsere Kraft und unsere Güter mit den neuen Werkzeugen, die wir in Händen haben: Wikipedia, Github, Makerbots, Wikis, Pads und unzählige weitere Gemeinschafts-Plattformen. Wir zeigen unsere Fähigkeiten und sind bereit, sie zu teilen. Wir arbeiten, weil wir es wollen und wo wir es wollen. Wir arbeiten gerne mit anderen zusammen – auch wenn nicht immer am selben Projekt. Was uns wichtig ist, bezahlen wir. Wir spenden, wir beteiligen uns mit Geld oder mit unserer Arbeitsleistung. Wir verwalten nicht, wir handeln. Was uns fehlt, das gründen wir.

Liquid Science: Was ist Wahrheit?

Die Welt ist, was der Fall ist und nicht, worauf wir uns verständigen, dass sie zu sein hat. Es gibt keinen Kompromiss. Wenn wir keinen Konsens finden, was wir für wahr halten, dann bleiben wir besser uneins. Die Meinung der Mehrheit hat keinen Anspruch auf Wahrheit. Gleichzeitig steht alles Wissen in Frage. Kein Konsens ist festgeschrieben. Nur wenn unser Konsens das Beharren und Provozieren der Trolle übersteht, ist er stabil genug, die wirklichen Herausforderungen zu bestehen.

Unser Wissen fließt. Alles, was wir über die Welt wissen, ist im stetigen Fluss. Wir passen unsere Modelle der sich verändernden Welt an – und nicht die Welt unseren Modellen. Wie sich unsere Timeline ständig erneuert, so fließen neue Daten in unser Wissen und verändern unsere Modelle von der Welt.
Ununterbrochen sind wir damit beschäftigt, die unterschiedlichen Schläuche, durch die unsere Daten zu uns fließen, zusammenzuführen, die Ströme zu vermischen und weiterzuleiten. Manchmal wird ein Schlauch brüchig. Bevor er platzt, lassen wir ihn fallen und nehmen seine Daten aus unserem System.

Liquid Art: Der Einzige und sein geistiges Eigenthum.

Code is poetry. Unsere Kunstwerke heißen Twitter, Instagram, Youtube oder Github. Dort ist jeder frei, seine Werke öffentlich zu machen. Jedes Werk wird von denen gefunden werden, die danach suchen. Unsere Künstler sind die Entwickler, die durch ihre kreative Arbeit diese Freiräume schaffen, unsere Ateliers sind die Coworking- und Hackerspaces, unsere Galeristen und Sammler sind die Venture Capitalists, die den Kreativen die Arbeit finanzieren und sie bei Erfolg groß machen.

Wer mag noch von sich behaupten: “Siehe, dies ist mein Werk”? Die Zeit ist vorbei, in der Werkzeug und Bildung definierte, wer ein Künstler ist und wer nicht. Die Hochkultur ist so tot wie das Latein des 13. Jahrhunderts. Man spricht es noch, aber es hat seine Bedeutung verloren. Stattdessen blühen die Volkssprachen. Diese Volkssprachen definieren die Kultur. Wunderbare Werke werden aus dem Vorhandenen geschaffen. Originalität bedeutet, den richtigen Remix finden.

Die Rolle des Kreativen als Schöpfer seines Werkes löst sich auf. In Liquid Authorship ist ein Werk nie abgeschlossen – das Werk ist in Bewegung, es wird genährt von allen, die es schaffen, aufgreifen, verbreiten und weiterentwickeln. Das fließende Werk hat keinen Anfang und kein Ende, es lebt weiter. Es ist eine gesellschaftliche Wertschöpfung. Kultur ist keine Ware, sondern ein Prozess.

Kultur ist unser Kult. Die Symbole unseres Kultes sind nicht religiös. Es sind die Zeichen, die wir teilen, um uns miteinander zu verbinden. Der Hash-Tag ist uns das Pentagramm der Alchimisten und Katzenbilder sind uns der Fisch der frühen Christen in den Katakomben. Aber wer hat das Recht, uns den Zugang zu unserer Kultur zu verbieten? Wer hat das Recht, uns zu sagen, wie wir unsere Symbole zu tauschen haben? Es ist unser Kult. Nur wir selbst haben alles Recht daran.

Liquid Dataism: Nousphere

Wir erweitern unseren Körper. Räder sind uns schnelle Füße, Kleidung ist eine zweite Haut. Auch unsere Sinne erweitern wir: die Augen mit Teleskop und Mikroskop, die Nase mit Chromatographen, die Ohren mit Lautsprechern. Und schließlich unsere Nerven und unser Gehirn – durch das Netz. Wie unsere Körper sich im Raum bewegen, so auch unsere Daten im Netz. Das Netz spannt uns neue Dimensionen auf, in denen wir leben. Unsere Daten sind unser Leib im Internet.

Agnoscit Praesentem. Die Sterne am Himmel – sie geben uns Halt, das Schiff auf der uferlosen See zu steuern.

Santa Clara, Ca. / Bonn, 2012
CC BY-SA 3.0: Jörg Blumtritt, Benedikt Köhler, Sabria David

Jörg (rpi-News-Autor) Lohrer
Jörg (rpi-News-Autor) Lohrer
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