Martin Wellenreuther: “Schüler haben Recht auf größtmögliche Hilfestellung!”

Lernforscher Martin Wellenreuther plädiert im Interview mit rpi-virtuell dafür, Forschungserkenntnisse im Schulalltag endlich anzuwenden. Denn: "Die, die sich schwer tun, brauchen unsere Hilfe – in weit höherem Maß als bisher." Seine Erkenntnisse haben Bedeutung für alle Fächer. Dr. Martin Wellenreuther ist studierter Soziologe und akademischer Oberrat an der Universität Lüneburg. Zu seinem Forschungs- und Arbeitsbereich…

Dr. Martin WellenreutherLernforscher Martin Wellenreuther plädiert im Interview mit rpi-virtuell dafür, Forschungserkenntnisse im Schulalltag endlich anzuwenden. Denn: "Die, die sich schwer tun, brauchen unsere Hilfe – in weit höherem Maß als bisher." Seine Erkenntnisse haben Bedeutung für alle Fächer.

Dr.
Martin Wellenreuther ist studierter Soziologe und akademischer Oberrat
an der Universität Lüneburg. Zu seinem Forschungs- und Arbeitsbereich
gehören empirische Studien zum Lehren und Lernen im Unterricht sowie methodologische Fragen
pädagogischer Forschung. Sein Buch "Lehren und Lernen, aber wie?"
erschien soeben in vierter Auflage im Schneider Verlag Hohengehren.

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Lehrkräfte: Aktuelle Forschungserkenntnisse wahrnehmen – Methoden mit Erfolg einsetzen

Herr
Wellenreuther, Sie beschäftigen sich damit, wie Lernen funktioniert und
wie sich die Erfolge empirisch überprüfen lassen – und zwar mit einem
Schwerpunkt auf dem Mathematikunterricht.

Ja, Mathematik, so
wird mir immer wieder erzählt, war für viele eher ein Problemfach als
ein Lieblingsfach in der Schule. Untersuchungen wie TIMSS und PISA
haben deutlich gemacht, dass wir uns in der Tat steigern können, was
die Vermittlung von mathematischen Kompetenzen betrifft.
Mein
Anliegen ist es, dass aktuelle Forschungserkenntnisse wahrgenommen und
in der Schulpraxis genutzt werden. Mathe sollte Spaß machen: Lernen
soll für die Jungen und Mädchen einfacher werden. Die Lehrkräfte sollen
ihre Werkzeuge und Methoden mit Erfolg handhaben.

Denn
Mathematik hat zentrale Bedeutung – gerade im Informationszeitalter.
Durch die Globalisierung werden die Karten neu gemischt, andere Länder
holen gewaltig auf. Wenn wir unseren Rang als führende Industrienation
behalten wollen, brauchen wir kompetente, gut ausgebildete
Nachwuchskräfte.

Grundlegend sind dabei Erkenntnisse darüber,
wie wir Dinge – Informationen – wahrnehmen. Vielleicht sollte man
besser sagen, wie begrenzt unsere Wahrnehmung ist?

Unsere
Wahrnehmung neuer Informationen funktioniert wie ein "Flaschenhals".
Ein einfaches Beispiel: Jemand gibt uns eine Wegbeschreibung, wie wir
mit der U-Bahn eine bestimmte Adresse in Hamburg erreichen, und wir
hören zu und versuchen uns die zu merken. Die Instanz, die unsere
Wahrnehmung be- und verarbeitet, bezeichnet man als Arbeitsgedächtnis.
Diese hat eine Kapazität von etwa 7 Sinnesinformationen.

Überlastung bei zuviel Information

Sie
kennen das bestimmt selbst: An einem gewissen Punkt "… die Straße
runter, an der ersten Ampel links, an der nächsten rechts ist die
U-Bahn-Station X-Platz, dann in die Linie 4 Richtung … bis …" gibt
man auf und schaltet ab. Wenn zu viele neue Informationen auf die Sinne
einströmen, kommt es zu einer Überlastung. Es geht gar nichts mehr.
Wenn
wir uns mit diesen Informationen aktiv auseinandersetzen, also zum
Beispiel der Beschreibung in Gedanken folgen, sinkt die Kapazität noch
einmal deutlich. Dann bitten wir vielleicht: "Langsam, also ich steig
am X-Platz in die U-Bahn. Wie geht es jetzt weiter?" So verschaffen wir
uns Freiraum und reduzieren die Überlastung.
Die gleichen Überlastungsprobleme haben Schülerinnen und Schüler, wenn etwas Neues durchgenommen wird.

Was bedeutet das konkret im Unterricht?
Die
Aneignung neuen Wissens über die Sinne ist schwierig und mühsam. Wenn
Schülerinnen und Schüler neue Dinge lernen sollen, sollten wir es ihnen
als Unterrichtende so einfach wie möglich machen und alle unnötigen
Informationen vermeiden. Das bedeutet, dass wir Lernarrangements
wahrnehmungsgerecht gestalten.

Ein Beispiel: Ich habe einmal
eine deutsche Erklärung aus einem deutschen Gymnasialmathematikbuch zum
Thema "Division von Brüchen durch ganze Zahlen" analysiert. Diese habe
ich mit Erklärungen zum gleichen Thema aus asiatischen Ländern (Japan
und Singapur) verglichen.
Ergebnis: Die deutsche Erklärung
benötigte 236 Worte, die japanische 76 Worte und die Erklärung aus
Singapur 44 Worte. Die deutsche Erklärung verwendete vier Beispiele,
die unverbunden nebeneinander gestellt wurden. In den asiatischen
Erklärungen konzentrierte man sich jeweils auf ein Beispiel.
Ferner:
Die Informationen, die es zu verknüpfen galt, lagen bei der deutschen
Erklärung weit auseinander. Das Ganze erstreckte sich über zwei halbe
Seiten und man musste ständig umblättern, um Sachverhalte zu verbinden.
Das ist ein Beispiel dafür, wie man es den Lernenden richtig schwer
machen kann. (1)

Neue Informationen wahrnehmungsgerecht präsentieren

Wie präsentiere ich neue Informationen also am besten?
Ein paar einfache Regeln helfen schon viel:

  • Informationsmenge reduzieren: Genau prüfen, welche Informationen notwendig sind.
  • Komplexe Inhalte in unabhängige Abschnitte aufteilen. Weiter geht es erst, wenn ein Abschnitt beherrscht wird.
  • Zusammengehörende
    Informationen zusammen präsentieren. Beispiel: Eine Grafik optisch
    gleich mit der Erklärung verknüpfen, so dass man nicht hin- und
    herspringen muss.
  • Die Lernenden erst etwas wahrnehmen lassen
    und dann darüber sprechen. Also z.B. eine Präsentation erst lesen
    lassen, dann erläutern.


Wenn wir lernen, geht es
nun um mehr als das Aufnehmen von Informationen, nämlich um den Aufbau
von Kompetenzen. Welche Erkenntnisse gibt es hier?

Die neuere
Forschung hat sich intensiv mit der Entwicklung des
Langzeitgedächtnisses befasst als dem Ort, wo wir Informationen,
Abläufe und Vorgehensmuster, Einstellungen, … speichern.
Man
geht heute davon aus, dass sich dies primär durch Imitation anderer
Menschen entwickelt: Wir nehmen auf, was andere sagen oder geschrieben
haben, arbeiten damit, rekonstruieren es, so dass es in unsere
Denkschemata passt, und eignen es uns so an.

Wege nachgehen fördert die Entwicklung von Denkschemata

Dieser Prozess kann und soll man gezielt unterstützen. Zum Beispiel wurde folgender Versuch (2) gemacht:
Studierende
erhielten eine Einführung in ein geometrisches Thema. Die Theorie wurde
ihnen anhand von Beispielaufgaben erläutert. Dann wurde die Gruppe
geteilt. Die einen erhielten sechs Aufgaben mit ausgearbeiteter Lösung,
die anderen erhielten die gleichen Aufgaben ohne Musterlösung und
sollten sie selbständig bearbeiten.
Anschließend wurde für alle
der gleiche Test durchgeführt. Welche Gruppe, denken Sie, war besser?
Tatsächlich waren es die ersten, die nur die Musterlösungen studiert
hatten. Sie waren etwa doppelt so erfolgreich.
Bei der Analyse der
Lösungsbeispiele können sich die Lernenden nämlich auf das
konzentrieren, was sie noch nicht verstanden haben, und sich das
Lösungsschema gründlich erarbeiten.

Zwischen den Lernphasen differenzieren

Das heißt wiederum für den Unterricht?
Für den Unterricht ergeben sich daraus folgende Vorgehensweisen:

  • Mehrere Lösungsbeispiele geben
  • Sich Zeit nehmen zum Erklären und gemeinsamem Verfolgen der Lösungswege
  • Die
    Schwierigkeiten schrittweise erhöhen: z.B. durch etappenweises
    Weglassen von Lösungsteilen bis hin zu völlig offenen Aufgaben.

Für
langfristiges Lernen und Behalten spielt es natürlich eine Rolle, dass
das Wissen, das im Rahmen direkter Instruktion vermittelt wurde, aktiv
in verschiedenen Situationen angewendet wurde. Man muss zwischen
Lernphasen differenzieren: Eine Phase der Aneignung, eine der ersten
Anwendung und eine der tieferen Verankerung. In diesem Prozess werden
Schülerinnen und Schüler zunehmend kompetent und selbstständig.

Für alle Fächer gültig

Bis jetzt ging es um den Mathematikunterricht. Sind solche Ergebnisse auf andere Fächer direkt übertragbar?
Vergleichbare
Versuche wurden mit den verschiedensten Inhalten und mit den
verschiedensten Personengruppen durchgeführt, angefangen bei kleinen
Kindern bis hin zu Greisinnen und Greisen. Überall kam man zu ähnlichen
Ergebnissen.
Ich habe mich ja nicht nur mit dem Mathematikunterricht beschäftigt. Vergleichbare Erkenntnisse gibt es z.B. beim Lesenlernen.

Aus
meiner Sicht sind diese Erkenntnisse über die Schule hinaus von
Bedeutung. Sie sollten in der Aus- und Weiterbildung, bei der
Erstellung von Lernmaterial aller Art, bei Gebrauchs- und
Bedienungsanleitungen berücksichtigt werden.

In der
Religionspädagogik gehen wir davon aus, dass sich Schülerinnen und
Schüler Lerninhalte selbständig aneignen sollen. Steht das nicht in
Widerspruch zu Ihrem Konzept?

Hier sollte man vielleicht etwas
differenzieren: Natürlich ist es für einen nachhaltigen Aufbau von
Kompetenzen bedeutsam, Erlerntes aktiv in verschiedenen Situationen
anzuwenden. Doch das können Lernende erst dann, wenn die entsprechende
Grundlage gelegt ist.

Wenn es um den Aufbau neuen Wissens geht, dann ist entdeckendes Lernen im Grunde genommen ein Ratespiel.
Etwa
wenn Sie, um bei unserem Beispiel von vorhin zu bleiben, nur eine
Zieladresse in Hamburg und einen U-Bahnplan in die Hand gedrückt
bekommen. Erfahrene, kontaktfreudige Nahverkehrsbenutzer kriegen das
hin, ihnen macht eine solche Aufgabe vielleicht sogar Spaß. Wer nicht
so bewandert ist, wird möglicherweise jedoch relativ lange brauchen,
bis er das Ziel erreicht, und einiges an Frust aufbauen.

Ich bin
der Meinung, man sollte Lernenden solche Umwege und schlechte
Erfahrungen ersparen und sie erst dann auf Entdeckungsreisen schicken,
wenn sie eine realistische Chance auf Erfolg haben.

Bildungsgerechtigkeit: Schwächere haben Recht auf größtmögliche Hilfestellung!

Also: Gezielte Förderung besonders für die Lernschwächeren?
F.
E. Weinert sagte, direkte Instruktion ist der schülerorientierte
Unterricht, weil in seinem Rahmen am ehesten auf die Leistungsschwächen
reagiert werden kann. Offener Unterricht huldigt einer Ideologie der
Selbstständigkeit, und die schwächeren Schüler geraten dabei massenhaft
unter die Räder!

Gute Schülerinnen und Schüler lernen in allen
Lernarrangements. Das haben Untersuchungen gezeigt. Mit dem
Vorwissensstand hängt die Belastung des Arbeitsgedächtnisses zusammen:
Kinder,
die viel an Wissen mitbringen, deren Arbeitsgedächtnisbelastung ist
viel geringer, weil sie Informationen, Schemata und Vorgehensweisen aus
dem Langzeitgedächtnis abrufen können. Sie sind also im Vorteil.

Es
geht um das viel zitierte Thema Bildungsgerechtigkeit. Wenn in
Deutschland eine Unterrichtseinheit durchgeführt und mit einer
Klassenarbeit abgeschlossen wird, und dann 1/3 der Klasse mangelhafte
Leistungen zeigt, dann wird die Arbeit gewertet und man geht zum
nächsten Thema über. Augen zu und durch!
Wie sollen die Schüler,
die in der Klassenarbeit eine mangelhafte Leistung gezeigt haben, bei
der nächsten Arbeit eine ausreichende Leistung erbringen, wenn die
Kompetenzen aufeinander  aufbauen, einmal ganz abgesehen davon, dass
ihnen die Lernlust vergangen ist. Wie will man auf mangelhaften
Leistungen aufbauen? Die entsprechenden Schüler landen schließlich auf
der Hauptschule mit deutlich reduzierten Berufsaussichten.
Diese
Beobachtungen korrespondieren mit der Erkenntnis, dass Deutschland bei
der Förderung von Kindern aus bildungsfernen Schichten zu den
Schlusslichtern gehört.

Die, die sich schwer tun, brauchen unsere Hilfe

Wir
müssen uns um die schwächeren Schülerinnen und Schüler kümmern. Die,
die sich schwer tun, brauchen unsere Hilfe – in einem weit höheren Maße
als bisher. Deshalb lautet mein Motto:
Ausnutzung aller wissenschaftlichen Erkenntnisse, die das Erwerben von Wissen und Kompetenzen erleichtern.

Dabei
müssen wir Mindeststandards anlegen: Wer eine Woche lang unterrichtet,
wird einen gewissen Lernerfolg in der Klasse verbuchen. Das reicht noch
nicht! Es muss experimentell geprüft werden, welche Methode
vergleichsweise die beste ist.
Auch Schüler mit Lernschwierigkeiten haben ein Recht auf größtmögliche Hilfestellung!

Das Interview führte Julia Born.

Weiterlesen

  • Das ganze Interview als PDF-Datei: mehr
  • Martin Wellenreuther: Lehren und Lernen, aber wie? Schneider Verlag Hohengehren. 2008(4) – mehr
    Rezension von Eva Gläser (Verlag Julius Klinkhardt): – mehr
  • Präsentation (Powerpoint):
    Mathematiklernen in der Grundschule – eine Diskussion neuerer empirischer Forschungen – mehr
  • Präsentation
    (Powerpoint): Empirisch geprüfte Konzepte der Förderung in der
    Grundschule – eine Diskussion unter besonderer Berücksichtigung des
    Lesenlernens – mehr


(1)
Vgl. Beispielseiten in Präsentation (Powerpoint): Mathematiklernen in
der Grundschule – eine Diskussion neuerer empirischer Forschungen – mehr
(2)
Paas, G.W.C.; Van Merrienbower, J.J.G. Variability of worked examples
and Transfer of Geometrical Problem Solving Skills. In: Journal of
Educational Psychology, Vol. 86/1. S. 122-133. 1994.

 

Julia Born
Julia Born
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