Interview: Die Bibel als Hypertext – Bibeldidaktik im Zeichen der Neuen Medien

Dr. habil. Stefan Scholz im Interview zu seiner Habilitationsschrift: “Bibeldidaktik im Zeichen der Neuen Medien. Chancen und Gefahren der digitalen Revolution für den Umgang mit dem Basistext des Christentums”. Wo liegt das revolutionäre Potential der neuen Medien für die Religionspädagogik? Die Neuen Medien haben zunächst einmal ganz allgemein einige grundlegende Umwälzungen hervorgebracht, die als digitale…

Dr. habil. Stefan Scholz im Interview zu seiner Habilitationsschrift: “Bibeldidaktik im Zeichen der Neuen Medien. Chancen und Gefahren der digitalen Revolution für den Umgang mit dem Basistext des Christentums”.

Wo liegt das revolutionäre Potential der neuen Medien für die Religionspädagogik?

Die Neuen Medien haben zunächst einmal ganz allgemein einige grundlegende Umwälzungen hervorgebracht, die als digitale Revolution kaum übertrieben eingestuft sind. Die Neuen Medien bestimmen heute sämtliche Bereiche unserer Kultur, sei es im Blick auf Arbeit oder Freizeit. Dieser umfassenden Neustrukturierung globaler Verhältnisse können sich heute eigentlich nur sehr konsequente Aussteiger entziehen. Denn im und mit dem Internet entwickeln sich die basalen Verhaltensmuster der Informationsgesellschaft, hier wird Wissen generiert und Kommunikation gepflegt. Auch unsere Wahrnehmung und Durchquerung von Raum und Zeit hat sich durch die Neuen Medien stark verändert. Wir können heute per skype und secondlife spielerisch, in Echtzeit und Echtpräsenz mit Menschen am anderen Ende der Welt Kontakt halten oder virtuell in Landschaften spazieren gehen, die es wirklich gibt, beziehungsweise die vergangen oder erdacht sind.

Kinder und Jugendliche wachsen als Digital Natives heute ganz selbstverständlich mit Handy, Spielkonsolen, Apps und Sozialen Netzwerken wie facebook oder schülerVZ auf. Sie sind die primären Adressaten oder Lernsubjekte der Religionspädagogik. Schon deshalb kommt die Religionspädagogik nicht an den Neuen Medien vorbei, sie muss hier zunächst entdecken und reflektieren, um die Lebenskontexte ihrer Zielpersonen genau zu bestimmen.

Darüber hinaus bieten die Neuen Medien freilich eine Fülle von didaktischem Potential, ich denke hier etwa an attraktive interaktive Lernlandschaften, überhaupt an selbstorganisiertes Lernen, an Recherchemöglichkeiten und vieles mehr. Sicherlich macht dies pädagogische Planungen nicht unbedingt einfacher. Denn es fordert den Lehrenden eine hohe Kompetenz ab, um einzelne Innovationen digitaler Produkte überblicken und Kritik üben zu können. Freilich kann gerade auch ein bewusster Verzicht bzw. sparsamer Einsatz der Neuen Medien je nach Kontext besonders sinnvoll sein.

Wenn im Kontext der neuen Medien die Fähigkeit Zusammenhänge herzustellen wichtiger wird, als Inhalte zu wissen, was hat das für Konsequenzen für die religiöse Bildung?

Dies bedeutet sicherlich eine Zurückstufung der Wertschätzung von Wissensinhalten. Es kommt hier in erster Linie nicht darauf an, Fakten, die ohnehin schnell veralten bzw. im Volumen explodieren oder als veränderliche Thesen verstanden werden, den Lernenden zu vermitteln. Wichtiger wird nun (und dieser Trend hat auch schon eingesetzt) einzuüben, wie die Lernenden möglichst schnell an benötigte Daten herankommen. Die Bedeutung von Grund- oder Orientierungswissen als notwendige Infrastruktur wird damit aber keineswegs unwichtig, denn nur mit der Fähigkeit zur Wertung können Informationen kritisch wahrgenommen werden. Insbesondere der kommunikative Abgleich und Austausch mit anderen Lernenden, aber auch Lehrenden bleibt daher unverzichtbar. Gerade soziale Kompetenzen also sind im hohen Maß nach wie vor gefordert.

Kanonisches Wissen, Dogmen, Glaubensnormen etc. können in der digitalen Welt nicht mehr als konstante Verbindlichkeiten vorausgesetzt werden. Kurz: Auch religiöse Bildung wird durch die Neuen Medien mehr denn je ein Stück weiter dezentral, partizipatorisch und veränderlich. Dies stellt Glaubensgemeinschaften vor schwierige Herausforderungen, bietet aber auch Chancen für aktive Neuaufbrüche. Die Twitterbibel veranschaulicht diese Ambivalenz vielleicht ganz gut.

 

Die zentrale These des Medientheoretikers Marschall McLuhan lautete “Das Medium ist die Botschaft”! Stimmen Sie dieser These zu und was bedeutet sie für die Bibeldidaktik?


Die These verführt in ihrer Griffigkeit ein wenig zu Vereinseitigungen. Natürlich ist damit nicht gemeint, dass Inhalte völlig unerheblich sind. Aber McLuhan hat sicherlich richtig pointiert, dass Verstehen und Medium viel enger zusammenhängen, als wir zumeist denken. Im Blick auf die Bibel kennen wir sehr viele Medienwechsel, von einfachen Papyri zu wertvolleren Pergamenten in der Alten Kirche, von Handschriften zu Buchdrucken an der Schwelle zur Neuzeit und heute hin zu elektronischen Formaten, desweiteren immer auch von Text zu Bild und Ton, von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit und umgekehrt u.s.w. Eine biblische Einheit drückt nun womöglich etwas ganz anderes aus, wird sie in goldenen Lettern präsentiert oder als Comicversion. 

Dies heißt zunächst für mich, dass biblische Inhalte nicht an bestimmte Medien gebunden sind. Die Bibel kann ein Buch sein oder auch etwas ganz anderes. Konventionen und Regelwerke bestimmen hierbei die Form.

Dies gilt umso mehr für die digitale Kultur. Insbesondere hier werden Inhalte zugunsten von Vernetzung zurückgesetzt (s.o.). Die Bibel kann, wie dies bereits bei der BasisBibel oder auch der Volkxbibel geschieht, in eine multifunktionale Kommunikationsplattform eingebettet werden, die der User eben nicht mehr nur zur Bibellektüre nutzt, sondern zur aktiven Auseinandersetzung, Diskussion etc. betritt. Diese medialen Veränderungen – bedingt durch die digitale Technik und Kultur – muss die Religionspädagogik natürlich auch kritisch bedenken. Was heißt es, wenn biblische Texte sehr intensiv von einer neuen Mediengruppe geprägt werden im Blick auf die Würde, Eigenständigkeit und Andersartigkeit, vielleicht auch Sperrigkeit ihres Gehaltes? Können hier noch Labels wie Heiligkeit und Autorität mit Sinn gefüllt werden? Auch hier hat Bibeldidaktik m.E. nicht nur offen zu experimentieren und auszuloten, sondern sicherlich auch Gefahren und skeptische Einschätzungen zu formulieren und zu diskutieren.

Was verstehen Sie unter der “Bibel als Hypertext”?

Gemeinsam mit einem Kollegen aus der Sprachwissenschaft, Volker Eisenlauer, habe ich vor ein paar Jahren ein Projektseminar durchgeführt, das die Bibel mit digitaler Kultur zusammenbringen sollte. Das Textmodell des Hypertextes wurde zum leitenden Paradigma. Hypertext meint zunächst ein „mehr an Text“, in einem weiteren Sinn beschreibt er die Organisation von Texten im Internet. Der bekannteste Hypertext wahrscheinlich ist Wikipedia, ein sehr prominentes Wissensformat in den Neuen Medien. Was passiert nun, wenn die Bibel als Hypertext verstanden wird?

A) Zunächst können Hypertexte nicht nur in eine Richtung gelesen werden, es gibt Textflächen und Links zu wiederum weiteren Textflächen. Dadurch haben Hypertexte keinen Anfang und Schluss, sie sind unendlich. Auch Bibeltexte werden nur selten von 1.Mose bis zur Johannesoffenbarung gelesen, es wird „irgendwo“ eingestiegen, es werden Bezüge hergestellt zwischen AT und NT, zwischen den Evangelien und darüber hinaus usw.

B) Weiter sind Benutzer von Hypertexten nicht auf das Lesen beschränkt, als interaktive „User“ können sie Texte ebenso Fortschreiben und Ergänzen sowie je nach technischen Voraussetzungen weitere Tätigkeiten ausführen. Ebenso wird in der Bibeldidaktik bisweilen kreativ aktualisiert, kontextualisiert usw. und aktiv mit Gestalt und Inhalt biblischer Welten experimentiert.

C) Auch sind Hypertexte nicht auf Schriftstücke begrenzt, sondern können eine Kombination aus Schrift, (bewegtem) Bild und Ton darstellen. Dies gilt für die Bibel in besonderem Maß, z.B. im Hinblick auf biblische Bildprogramme oder Vertonungen.

D) Vor allem sind Hypertexte aufgrund der interaktiven Möglichkeiten der User „Text-in-Bewegung“, sie sind ein fluid medium, das sich ständig verändern kann. Trotz der biblischen Kanonizität weist gerade der Bibelgebrauch eine überaus große Bandbreite an Textversionen, Übertragungen und Umschreibungen auf.

Das Konzept „Bibel als Hypertext“ versucht also die Eigenschaften von Hypertexten auf den Umgang mit der Bibel zu beziehen, was erstaunlich gut funktioniert. So soll auf textwissenschaftlicher Basis gezeigt werden, wie eine kaum aufzuhaltende weitere Eintragung von Bibel und Bibeldidaktik in die Kultur der Neuen Medien beschrieben und reflektiert werden kann.

Der arabischer Frühling oder die jüngsten Erfolge der Piratenpartei zeigen das Potential der neuen Medien für Politik und Gesellschaft.
Wo sind im Blick auf Religion für sie Aufbrüche und Veränderungen erkennbar?

Insbesondere evangelikale Gruppierungen verstehen es, die technische Innovation der Neuen Medien zu nutzen. Dabei kann es zur Verbindung progressiver Technik mit restaurativen Ideologien kommen. Vor allem in den USA sind als Weiterentwicklung der Teleevangelisten internetgestützte Gemeindegebilde entstanden. Im Blick auf Deutschland ist das Projekt der Volxbibel der Jesus-Freaks ein Beispiel zur Veranschaulichung, welche Chancen gegenwärtig ergriffen werden und welche Schwierigkeiten zu diskutieren sind. Thematisiert werden dabei u.a. die Selbständigkeit der User im Verhältnis zur Zensur im Blick auf die gute Textfassung, insgesamt die Spannung zwischen Eigenständigkeit und organisierter Gruppenidentität oder auch das Problem einer Scheidung des Wichtigen von Unwichtigem, denn eifrige User können in Foren und Blogs recht schnell und effektiv eine gigantische Unübersichtlichkeit anrichten.

Aufbrüche und Veränderungen im Blick auf Religion sind im landeskirchlichen Bereich – auch aus gutem Grund – hingegen weit verhaltener oder ich sehe sie nicht. Sicherlich gibt es Internetseelsorge, digitalisierte Jugendarbeit, religionspädagogische Plattformen wie hier auf rpi-virtuell und mit der BasisBibel eine volkskirchliche Variante zur Volxbibel. Hier jedoch von besonderen Aufbrüchen zu sprechen, halte ich für übertrieben. M.E. geht es auch gar nicht so sehr darum, unkritisch die Neuen Medien für Kirche und Religionspädagogik nutzbar zu machen als vielmehr darum, deren Veränderungsdynamik wahrzunehmen und kritisch zu reflektieren. Denn vor allem sind es die Neuen Medien, die ja das Verhalten und die Einstellungen von Menschen prägen, die auch mittels religionspädagogischer Bildungsprozesse erreicht werden sollen – und dies weiterhin hoffentlich auch hauptsächlich offline.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Jörg Lohrer

Jörg (rpi-News-Autor) Lohrer
Jörg (rpi-News-Autor) Lohrer
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2 Kommentare

  1. Ein absolut hilfreiches und weiterführendes Interview, danke ! Daß unsere alte Bibel immer schon ein Hypertext war, inspiriert dazu, nun auch die digitale Revolution auf ihre Konsequenzen hin (kritisch) zu bedenken. Es lohnt sich, wenn rpi-virtuell den Anschluss zur fachwissenschaftlichen Diskussion sucht. Dem Interviewpartner ist zu wünschen, daß er in der religionspädagogischen Aus-, Fort- und Weiterbildung tätig wird und mit den Lehrkräften nach Wegen kreativer Weiterentwicklung für den Unterricht sucht.

  2. Vielen Dank für diesen überaus inspirierenden Beitrag! Das Textmodell des Hypertextes sollte verstärkt für den Religionsunterricht und die Auseinandersetzung mit der Bibel nutzbar gemacht werden. Dies ist eine kreative, spielerische und lebensnahe Art des Umgangs. Wie lässt sich dieses Modell mit dem neuen rpi-virtuell realisieren? Ich hätte große Lust, gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen nach neuen Wegen zu suchen. Wer ist mit dabei? Ich denke, wir brauchen nicht ein Mehr an Technik oder Design (auch wenn es bei rpi-virtuell richtig gut geworden ist!), sondern viel mehr gemeinsame Nachdenken und konzeptionelles Arbeiten.

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